Die Verschwoerung von Whitechapel
Gracie kratzte mit dem Schürhaken die Asche vom Ofenrost und legte mehr Kohlen auf.
Charlotte bemühte sich, möglichst nicht an all das zu denken, sich nichts vorzustellen. Tagsüber gelang ihr das auch recht gut, doch sobald sie im Bett lag, suchten die Ängste sie heim. Sie war körperlich nicht müde genug und seelisch völlig erschöpft. Noch nie war sie in Spitalfields gewesen, dennoch stellte sie sich das Leben dort recht plastisch vor: ungesunde
enge Straßen mit Gestalten, die in finsteren Eingängen lauerten, ein Leben voller Gefahren.
Nachts wachte sie häufig auf, hörte jedes Knarren im Haus, spürte die Leere neben sich im Bett, fragte sich, wo Thomas sein mochte, ob er auch wach war und unter seiner Einsamkeit litt.
Manchmal schien es ihr unmöglich, um der Kinder willen so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, dann wieder war es eine Pflicht, für die sie dankbar war. Wie viele Frauen hatten sich im Laufe von Jahrhunderten tapferer gebärdet, als sie waren, wenn ihre Männer in den Krieg mussten, auf schwankenden Schiffsplanken Waren über die Meere transportierten oder davongelaufen waren, weil sie sich der Verantwortung entziehen oder von Frau und Kindern einfach nichts mehr wissen wollten? Zumindest durfte sie sicher sein, dass Thomas nichts von all dem war und zurückkehren würde, sobald er eine Möglichkeit dazu hatte – oder sobald sie eine so überzeugende Antwort auf die Frage fand, warum Adinett Martin Fetters ermordet hatte, dass die Öffentlichkeit nicht daran zweifeln und nicht einmal die Angehörigen des Inneren Kreises die Augen davor verschließen konnten.
Sie legte die Zeitung beiseite und stand gerade in dem Augenblick vom Stuhl auf, als Daniel und Jemima hereingestürmt kamen und ihr Frühstück haben wollten. Sollte es nicht genug zu tun geben, wenn die Kinder in der Schule waren, würde sie etwas finden oder sich etwas ausdenken.
Die Küchenuhr schlug – Viertel nach acht. Bei den acht Schlägen der vollen Stunde hatte sie nicht daran gedacht. Jetzt war John Adinett wohl tot, sein Hals gebrochen, ganz wie bei Martin Fetters. Man würde ihn in einem Grab beisetzen, das nicht in geweihter Erde lag, und seine Seele würde sich vor dem Weltenrichter verantworten müssen.
Sie lächelte den Kindern zu und ging daran, ihnen Frühstück zu machen.
Während Charlotte schon zum zweiten Mal in dieser Woche den Wäscheschrank neu einräumte, kam Gracie kurz nach zehn herauf, um ihr mitzuteilen, dass Mrs. Radley da sei. Eigentlich war das unnötig, denn Emily folgte ihr auf dem Fuße. In ihrem dunkelgrünen Reitkleid mit einem dunklen hohen Hut und
einer Jacke, die so erstklassig geschnitten war, dass sie jede Linie ihrer schlanken Figur betonte, sah sie umwerfend elegant aus. Ihre Wangen waren von der Anstrengung des Treppensteigens leicht gerötet. Das blonde Haar, das sich unter der festen kleinen Hutkrempe gelöst hatte, drehte sich in der feuchten Luft zu Löckchen.
»Was tust du da?«, fragte Emily mit einem Blick auf die Berge von Laken und Kissenbezügen.
»Ich suche heraus, was geflickt werden muss«, teilte ihr Charlotte mit. Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass sie im Vergleich zu ihrer Schwester unansehnlich und unordentlich aussah. »Hast du vergessen, wie man das macht?«
»Ich bin nicht sicher, dass ich es je gewusst habe«, gab Emily von oben herab zu verstehen. Sie hatte finanziell und gesellschaftlich ebenso weit über ihrem Stand geheiratet wie Charlotte darunter. Ihr erster Mann, ein vermögender Aristokrat, lebte schon eine ganze Weile nicht mehr, und Emily hatte nach einer angemessenen Trauerzeit ihre Einsamkeit durch eine neue Ehe beendet. Ihr zweiter Gatte sah gut aus und war charmant. Zwar war er nahezu besitzlos, hatte sich aber durch Emilys Ehrgeiz dazu bringen lassen, für das Unterhaus zu kandidieren und war inzwischen Abgeordneter.
Gracie verschwand wieder nach unten.
Charlotte kehrte ihrer Schwester den Rücken und machte sich erneut daran, Kissenbezüge zusammenzulegen und sauber in den Schrank zu räumen.
»Ist Thomas noch fort?«, erkundigte sich Emily. Sie sprach unwillkürlich leiser.
»Was glaubst du denn?«, gab Charlotte mit einer gewissen Schärfe in der Stimme zurück. »Ich habe dir ja gesagt, dass es länger dauern wird. Niemand hat eine Ahnung, wie lange.«
»Genau genommen, hast du mir sehr wenig gesagt«, erklärte Emily, nahm ihrerseits einen Kissenbezug zur Hand und legte ihn ordentlich zusammen. »Das klang alles ziemlich
Weitere Kostenlose Bücher