Die Verschwoerung von Whitechapel
Ellbogen auf die gescheuerte Tischplatte. »Er hat kein Wort gesagt, solange ich da drin war, ist aber zwanzig Minuten geblieben, nachdem ich weg war. Ich weiß das, weil ich auf ihn gewartet habe. Ich habe ihn auch angesprochen.«
Fasziniert lauschte sie mit weit aufgerissenen Augen und hatte
die Teekanne ganz vergessen. Erst das Pfeifen des Kessels brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie zog ihn vom Feuer und vergaß ihn sofort wieder.
»So?«, fragte sie. »Was wollte er denn? Was is an Cleveland Street so Besonderes?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber er ist ein Spezialist für Skandale, und ich nehme an, dass er einem auf der Spur ist. Er hat mich gefragt, was ich dort wollte. Wahrscheinlich war er ziemlich verblüfft, mich da zu sehen, und glaubt jetzt wohl, dass er auf der richtigen Fährte ist. Es hat mit Adinett zu tun, das hat er so gut wie zugegeben.«
Gracie setzte sich ihm gegenüber. »Weiter«, drängte sie.
»Ich bin ihm dann nach. Er hat mich abzuschütteln versucht, es aber nicht geschafft.«
»Und wo is er hin?« Sie ließ sein Gesicht nicht aus den Augen.
»Ans Südufer der Themse, in die Verwaltung vom Guy’s Hospital … da hab ich ihn aus den Augen verloren.«
»Guy’s Hospital«, wiederholte sie gedehnt. Schließlich stand sie auf, goss den Tee auf und stellte ihn auf den Tisch. »Warum nur wollte er verhindern, dass Sie erfahren, wohin er gegangen is?«
»Weil es etwas mit Adinett zu tun hat«, gab er zurück. »Und mit der Cleveland Street. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, was das ist.«
»Das müssen wir eben rauskriegen«, sagte sie, ohne zu zögern. »Wir müssen beweisen, dass Mr. Pitt Recht hatte, dass Adinett schuldig ist, und wir müssen den Grund wissen. Wollen Se ’n Stück Kuchen?«
»Ja, bitte.« Er nahm das größte Stück von dem Teller, den sie ihm hinhielt. Was das betraf, hatte er schon lange mit der Förmlichkeit gebrochen. Gracie buk den besten Kuchen, den er je gegessen hatte.
Sie sah ihn ernst an. »Sie kriegen doch bestimmt raus, was es is, nich wahr – ich meine, was wirklich passiert is und warum.«
Tellman wünschte, dass sie nur einen Bruchteil so viel Bewunderung für ihn aufbrachte wie für Pitt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, auch wenn er auf Verzweiflung zurückging, war
herrlich und zugleich beängstigend. Würde er diese Erwartung erfüllen können? Er wusste nicht recht, wie er weiter vorgehen sollte. Was hätte Pitt an seiner Stelle getan?
Er konnte Pitt gut leiden, das musste er sich eingestehen, auch wenn es ihm in Bezug auf dutzende von Dingen unmöglich war, mit ihm übereinzustimmen. Meist aber war Pitt ganz vernünftig, trotz gewisser Absonderlichkeiten, an die man sich erst gewöhnen musste.
Aber ganz gleich, was daraus werden mochte, Tellman war ein Bestandteil von Pitts Leben. Er hatte zu oft an seinem Tisch gesessen, an zu vielen Fällen gemeinsam mit ihm gearbeitet. Und dann war da noch Gracie.
»Natürlich tu ich das«, sagte er, den Mund voll Kuchen.
»Und Sie bleiben diesem Remus auf der Fährte?«, setzte sie nach. »Der is hinter der Sache her … Die Gnädige versucht, mehr über die Witwe von Fetters rauszukriegen, hat aber bis jetzt noch nix. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn es so weit is.« Sie sah müde und furchtsam aus. »Sie geben doch nich auf, oder?«, drängte sie erneut. »Auf keinen Fall! Wenn wir’s nich machen, kümmert sich niemand um Mr. Pitt.«
»Ich habe es Ihnen versprochen«, sagte er und sah sie unverwandt an. »Ich bekomme es heraus. Jetzt essen Sie selbst etwas von Ihrem Kuchen. Sie sehen ja erbärmlich aus. Und gießen Sie den Tee ein!«
»Er hat noch nich lange genug gezogen.« Doch sie goss ihn trotzdem ein.
Kapitel 6
C harlotte schlug die Morgenzeitung mehr aus Einsamkeit als aus Interesse an den Einzelheiten über die bevorstehende Unterhauswahl auf. Man ging sehr hart mit dem Premierminister Gladstone ins Gericht und warf ihm vor, mit Ausnahme der Selbstverwaltung Irlands alle politischen Fragen zu vernachlässigen und keinerlei Bemühungen zur Einführung des achtstündigen Arbeitstages zu unternehmen. Aber Charlotte rechnete ohnehin nicht damit, dass den Zeitungen daran lag, jemandem gerecht zu werden.
Als Nächstes kam die Nachricht von einem tragischen Eisenbahnunglück bei Guiseley im Norden. Zwei Menschen waren ums Leben gekommen und mehrere schwer verletzt worden.
Die New Oriental Bank Corporation hatte sich gezwungen gesehen, ihre Zahlungen einzuschränken. Der
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