Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
lebendig war, dass es schmerzte. Fetters hatte alle entscheidenden Orte besucht: Er hatte Dantons Haus aufgesucht, dessen letzten Weg auf dem Schinderkarren zur Guillotine verfolgt, nachgezeichnet, wie er in dem Augenblick zu wahrer Größe emporwuchs, in dem er bereits alles verloren hatte und mit ansehen musste, wie die Revolution ihre Kinder fraß, und zwar nicht nur deren Leib, sondern, weit schrecklicher, auch deren Geist.
    Er hatte in der Rue St. Honoré vor dem Haus gestanden, in dem Robespierre bei einem Tischler gewohnt hatte, eben jener Robespierre, der tausende in den Tod geschickt, aber das Werkzeug der Vernichtung zum ersten Mal gesehen hatte, als er selbst auf seinem letzten Weg der Guillotine entgegenfuhr.
    Fetters war durch die Straßen gezogen, in denen die Studenten im Zuge der Revolution des Jahres 1848, die einen so hohen Blutzoll gefordert und so wenig bewirkt hatte, auf die Barrikaden gestiegen waren. Charlotte war den Tränen nahe, als sie den Bericht zu Ende gelesen hatte, und musste sich überwinden, den nächsten zur Hand zu nehmen. Doch hätte Juno sie in ihrer Lektüre unterbrochen und die Hefte zurückverlangt,
sie wäre sich beraubt und mit einem Mal allein vorgekommen.
    Fetters schrieb aus Venedig, das ihm selbst unter dem Joch der Habsburger als schönste Stadt der Welt erschien, und aus Athen, einst die bedeutendste aller Stadtrepubliken, Wiege der Vorstellung von Demokratie. Nur noch ein Abklatsch des alten Ruhmes war geblieben und nichts vom Geist jener Zeit.
    Schließlich schrieb er aus Rom, wieder über die 48er Revolution, den kurzen Glanz einer aufs Neue erweckten römischen Republik, den die Heere Napoleons III. und die Rückkehr des Papstes ausgelöscht hatten. Die leidenschaftliche Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit war ebenso unterdrückt worden wie die Hoffnung, man werde der Stimme des Volkes Gehör verschaffen. Er schrieb, wie das Haupt des Kampfes für eine Republik, Giuseppe Mazzini, in einem Raum des Vatikanpalasts lebte und Rosinen aß, berichtete, dass er jeden Tag frische Blumen haben musste. Er schrieb über die Taten Garibaldis und dessen von Leidenschaft glühende Frau, die am Ende der Belagerung gestorben war, wie auch über den Vorkämpfer der republikanischen Idee, Mario Corena, der bereit gewesen war, alles für das Wohl der Allgemeinheit hinzugeben: sein Geld, seine Ländereien und, sofern es nötig war, auch sein Leben. Hätte es doch nur mehr Leute wie ihn gegeben – der Kampf wäre nicht verloren gegangen.
    Als Charlotte den letzten Artikel auf den Schreibtisch zurücklegte, waren ihre Gedanken angefüllt mit Heldentum und Tragödie, waren Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmolzen, vor allem aber glaubte sie, Martin Fetters’ Stimme zu hören, sah seine Überzeugungen vor sich, seine Persönlichkeit, seine lebensbejahende, leidenschaftliche Liebe zur Freiheit des Einzelnen im Rahmen eines zivilisierten Ganzen.
    Sofern ihn John Adinett tatsächlich so gut gekannt hatte, wie allgemein behauptet wurde, musste er einen mehr als triftigen Grund gehabt haben, einen solchen Mann zu töten. Es musste etwas so Übermächtiges gewesen sein, dass es sich über Freundschaft, Bewunderung und die gemeinsame Liebe zu Idealen hinwegzusetzen vermochte. Sie konnte sich nicht denken, was das hätte sein können.
    Dann kam ihr ein Gedanke, flüchtig wie ein Schatten, der über die Sonne dahinzieht: War es möglicherweise gar kein Mord gewesen? Hatte Adinett womöglich die Wahrheit gesagt?
    Sie hielt den Blick gesenkt, damit Juno nichts von ihrem Verdacht merkte. Es kam ihr vor, als habe sie Pitt mit diesem Gedanken betrogen.
    »Einzigartig«, sagte sie. »Es kommt mir nicht nur so vor, als wäre ich selbst dabei gewesen und hätte mitbekommen, was auf den Straßen jener Städte geschehen ist, es ist mir auch fast ebenso zu Herzen gegangen wie ihm selbst.«
    Der Anflug eines Lächelns trat auf Junos Züge. »Ja, so war er – so voller Leben, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, er könnte wirklich sterben.« Sie sagte das mit leiser Stimme, wie von ferne. Es klang beinahe überrascht. »Es kommt einem irgendwie lächerlich vor, dass um einen herum alles so weitergeht wie immer. Ich bin selbst gespalten – teils möchte ich Stroh auf die Straße streuen und allen Leuten sagen, sie sollen langsam fahren, teils möchte ich so tun, als wäre es nie geschehen, als wäre er wieder auf einer Reise und würde in wenigen Tagen zurückkehren.«
    Charlotte

Weitere Kostenlose Bücher