Die Verschwoerung von Whitechapel
Geldes, das ihr Tellman gegeben hatte, außerdem besaß sie noch ein wenig eigenes. Sie war bereit, Remus zu folgen, wohin auch immer er sich wenden mochte, und so wartete sie um acht vor seinem Haus auf ihn.
Es war ein angenehmer Vormittag und schon ziemlich warm. Blumenverkäufer, die bei Tagesanbruch in die Stadt gekommen waren, priesen ihre Sträuße an. Gracie war froh, dass sie nicht den ganzen Tag an irgendwelchen Straßenecken herumstehen und darauf hoffen musste, jemand werde ihr etwas abkaufen.
Die Botenjungen aller möglichen Lieferanten kamen mit Körben voller Fisch, Fleisch und Gemüse vorüber, gingen an die Hintertüren der Häuser und klopften dort. An der nächsten Kreuzung sah sie einen Milchwagen. Eine schmale Frau ging mit einer vollen Kanne in der Hand, deren Gewicht sie auf einer Seite herunterzog, auf ihr Haus zu.
Ein Zeitungsjunge stellte sich an die Straßenecke und rief von Zeit zu Zeit die neuesten Schlagzeilen über die bevorstehende Unterhauswahl aus. Im amerikanischen Bundesstaat Minnesota hatte ein Wirbelsturm dreiunddreißig Menschen das Leben gekostet. Was die Öffentlichkeit betraf, war Adinett bereits vergessen.
Lyndon Remus trat aus dem Haus und machte sich mit großen Schritten auf den Weg zur Hauptstraße. Gracie hoffte, dass er zur Haltestelle der Pferde-Omnibusse wollte. Droschken waren sehr teuer, und sie bemühte sich, mit Tellmans Geld so haushälterisch wie möglich umzugehen.
Den Kopf vorgereckt, schritt Remus mit schwingenden Armen zielstrebig aus. Er trug eine alte Jacke und ein kragenloses Hemd. Ganz offensichtlich war er nicht auf dem Weg zu besseren Herrschaften. Vielleicht wollte er wieder in die Cleveland Street?
Gracie folgte ihm mit raschen Schritten und musste sogar ein wenig rennen, um ihn einzuholen. Auf keinen Fall durfte sie ihn aus den Augen verlieren. Da er sie nicht kannte, brauchte sie zum Glück nicht auf großen Abstand zu achten.
Sie hatte Recht, er wollte zur Haltestelle. Gott sei Dank! Da sonst niemand dort stand, musste sie mehr oder weniger neben ihm auf den nächsten Pferde-Omnibus warten. Aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass er sich an sie erinnern würde, wenn er sie das nächste Mal sah. Ohne jemanden oder etwas um sich herum wahrzunehmen, spähte er angestrengt auf die Straße und trat dabei ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
In Holborn stieg er in einen Pferde-Omnibus um, der weiter nach Osten fuhr. Fast hätte sie nicht mitbekommen, dass er an der Whitechapel High Street gegenüber dem Bahnhof ausstieg. Wollte er etwa wieder mit der Bahn irgendwo hinfahren? Aber nein, er ging die Court Street entlang zur Buck’s Row. Dort blieb er stehen und sah sich um. Gracie folgte seinem Blick, sah aber nichts, was in irgendeiner Weise interessant gewesen wäre. Vor ihnen lag die nach Norden führende Eisenbahnlinie, rechts die Erziehungsanstalt und links die Schnapsbrennerei Smith & Co. Dahinter befand sich ein Friedhof. Hoffentlich war er nicht gekommen, sich Gräber anzusehen.
Möglich war es. Schließlich hatte er sich bereits nach dem Tod von William Crook und J. K. Stephen erkundigt. Folgte er der Fährte der Toten? Waren sie womöglich alle ermordet worden?
Auf der Straße herrschte lebhafter Verkehr, Menschen gingen ihren Verrichtungen nach, Fuhrwerke aller Art fuhren vorüber.
Trotz des warmen Tages und obwohl nicht das leiseste Lüftchen wehte, überlief es Gracie kalt. Hinter was war Remus da her? Woher wusste ein Kriminalpolizist, wie er finden konnte, was er suchte? Vielleicht war Tellman doch klüger, als sie ihm
zugebilligt hatte. Diese Aufgabe zu erledigen war gar nicht einfach.
Remus ging weiter und sah sich immer wieder um, als suche er etwas Bestimmtes. Da er aber nicht auf die Nummern der Häuser achtete, war es wohl keine Adresse.
Sie folgte ihm sehr langsam. Sobald er sich umwandte, richtete sie den Blick auf eine Haustür und tat so, als suche auch sie etwas.
Er hielt einen Mann mit einem Lederschurz an und sprach mit ihm. Dieser schüttelte den Kopf und ging rasch weiter zur Thomas Street, an deren Ende Gracie ein Schild sehen konnte, das zum Arbeitshaus von Spitalfields wies. Die riesigen grauen Gebäude, Obdach und Gefängnis zugleich, zeichneten sich vor ihren Augen ab. Als kleines Mädchen hatte sie vor dem Arbeitshaus mehr Angst gehabt als vor dem Gefängnis, denn wen die Armut dort hinführte, vegetierte im bittersten Elend. Sie hatte Menschen gekannt, die lieber auf der Straße
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