Die verschwundene Lady (German Edition)
wir wenigstens irgendeinen hieb-und stichfesten Beweis hätten, dass er der Liebhaber deiner Mutter ist. Du kannst ihn nicht einmal persönlich identifizieren. Du hast nur ein Wappen an einem Rolls-Royce gesehen.«
»Du weißt noch nicht, was noch alles geschehen ist.«
Anne schilderte die Geschehnisse, deren grausigen Höhepunkt der Tod ihres Katers bildete. Stanwell zeigte Mitgefühl.
»Diese Unmenschen. Meine Nachforschungen bei den Northumbertons sind ihnen also bekannt geworden. Das ist freilich fatal.«
»Gibt es Neuigkeiten über meine Mutter? Sind abermals Vermögenswerte abgezogen worden?«
»Bis jetzt noch nicht«, entgegnete Stanwell,
Anne hatte eine Idee.
» Dass Mutter verschwunden ist, steht ja wohl außer Frage. Der eine Brief, dass es ihr gut ginge , ist ein Täuschungsmanöver und ihr abgepresst worden. Wenn wir jetzt einen Hinweis von ihr hätten, eine Aufzeichnung oder Erklärung, dass Lord Henry Kensington ihr Geliebter ist, könnten wir ihn damit doch belangen und behördlicherseits nachfassen lassen?«
»Freilich. Worauf willst du hinaus?«
»Verliebte Frauen pflegen oft Briefe zu schreiben oder zu erhalten. Von meiner Mutter weiß ich überdies, dass sie eine eifrige Tagebuchschreiberin gewesen ist. Vielleicht finde ich in ihrer Wohnung den gesuchten Hinweis. Oder im Landhaus in Sussex.«
»Das wäre einen Versuch wert. Doch zuerst müssen wir lunchen. Mir ist schon ganz schwach im Magen.«
Sie suchten ein nahe gelegenes Restaurant auf. Obwohl Anne zunächst glaubte, keinen Bissen hinunterbringen zu können, setzte bei ihr dann ein Bärenhunger ein. Sie putzte den Teller mit Lammrücken und Gemüse leer und verzehrte noch einen Nachtisch. Die Natur forderte ihr Recht.
Anschließend wurde zu Mrs. Carmichaels Wohnung in der Park Road gefahren. Trotz intensiven Suchens fanden sich weder Briefe noch ein Tagebuch.
»Dann muss ich nach Sussex fahren«, sagte Anne. »Und zwar sofort, sobald ich den armen Captain Silver zur letzten Ruhe gebettet habe.«
Der Kater fand seine letzte Ruhestätte im Regent's Park. Peter Stanwell begleitete Anne, um sie zu beschützen, sollte der geheimnisvolle Unbekannte im Trenchcoat wieder auftauchen. Ein Parkwächter erschien, als Anne mit dem Klappspaten unter einer Eiche das Grab für den Kater ausgehoben hatte. Man hatte den Karton mit dem Kadaver aus ihrer Wohnung geholt.
Als er hörte, worum es sich handelte, drückte der Parkwächter ein Auge zu.
»Ich habe nichts gesehen«, sagte er und schlurfte weiter durchs abgefallene Laub.
Peter Stanwell stand steif und würdig dabei, als Anne das Tiergrab zuschaufelte. Den Anwalt hatte den Bowlerhut auf dem Kopf und trug den Schirm überm Arm, wie es sich für einen Gentleman geziemte. Anne hatte darauf bestanden, das Grab für Captain Silver selbst auszuheben.
Eine Träne tropfte auf die Erdschollen. Als die junge Frau sich dann umdrehte, sah sie jenseits der Wiese, über die dünne Nebelschwaden hinzogen, unter den kahlen Bäumen einen Mann mit ins Gesicht gezogenem Hut und einem Trenchcoat stehen. Er beobachtete sie. Sein Gesicht war wieder nicht zu erkennen.
»Da ist er wieder !«, sagte Anne aufgeregt und deutete auf ihn.
Der Unbekannte drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Man konnte ihn auch diesmal weder erkennen noch stellen.
*
Am Abend des folgenden Tages kehrte Anne aus Sussex nach London zurück. Sie war spät mit einem Zug nach Newhaven in der Grafschaft Sussex gefahren, hatte dort im Hotel den Rest der Nacht zugebracht und sich dienstagmorgens zum Landhaus begeben. Doch das Gesuchte hatte sie nicht gefunden.
In London eröffnete ihr Stanwell schlimme Neuigkeiten.
»Hier erhielt ich eine Verkaufsorder deiner Mutter für ihre Londoner Stadtwohnung, das Landhaus in Sussex und für alle Vermögensteile, die irgendwie flüssig gemacht werden können. Der Erlös soll auf ein Schweizer Numme rn konto überwiesen werden. - Da sind noch ein Brief und ein Foto.«
In seiner Privatwohnung, wo sie ihn diesmal aufsuchte, gab Stanwell Anne alles. Die Studentin las:
Liebe Anne, lieber alter Peter,
verzeiht mir, wenn ich Euch ohne Abschied verlasse. Ich hasse Abschiedsszenen. Mein Leben in England ist in den letzten Jahren allzu öde, grau und leer gewesen. Deshalb will ich der Insel den Rücken kehren, vielleicht für immer, und mit meinem Geliebten auf dem Kontinent leben. Es gibt gewisse Gründe, die uns das angeraten erscheinen lassen. Da wir beide freie Menschen sind,
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