Die verschwundene Lady (German Edition)
für ihr Eingreifen, oder?«
»Ja. Die beeidigte Aussage auf jeden Fall. Aber wenn dir nun etwas zustößt? Wenn du nicht mehr aus dem Schloss herauskommst?«
»Dann verständigst du eben die Polizei respektive New Scotland Yard, Onkel Peter. Denn du wirst in der Nähe des Schlosses auf mich warten. Sollte ich nach einer bestimmten Frist nicht zurückkehren, weißt du, woran du bist. In dem Fall ist doch wohl auch ein Motiv für ein behördliches Eingreifen gegeben?«
»Ja. Aber es ist zu gefährlich. Das darfst du nicht, Anne. Ich kann es nicht gestatten.«
»Weißt du jemand anderen, der in Frage käme? Du vielleicht?«
»Nein, ich bin nicht der geeignete Mann für so ein Unternehmen. Mir fehlen die Nerven. Ich kann und darf es nicht!«
»Ich nehme mir das Recht«, sagte Anne. »Das Leben meiner Mutter steht auf dem Spiel. Lord Henry hat England verlassen, um sich ein Alibi zu beschaffen, schätze ich. Seine Lordschaft will sich nicht die Finger schmutzig machen. Wenn meine arme Mutter ihren Zweck erfüllt hat, wenn man sie auspresste und ihr alles entriss , dann wäre es doch einfach für diese Schurken, sie spurlos verschwinden zu lassen. Dem finsteren, beschränkten Gärtner würde ich eine solche Übeltat zutrauen.«
Stanwell nickte.
»Du musst es wagen, Anne. Ich sehe es ein. Aber sei nur vorsichtig. Mein Gott, ein Lord, und ein solcher Verbrecher! Womöglich will er dieses üble Spiel auch noch mit anderen treiben.«
Anne gab es innerlich einen Stich, als sie an Lord Henry dachte. Er hatte sie stark beeindruckt. Sie konnte verstehen, weshalb ihre Mutter sich in ihn verliebt hatte. Hätte sie nicht gewusst , was für ein Schurke Lord Henry war, wäre das auch Anne widerfahren. Ja. Henry of Kensington war schon ein ganz besonderer Mann.
* .
Der Oldtimer-Bentley hielt unterhalb des Schlossbergs am Ufer der Themse. Dichter Nebel kroch von der Themse her und legte sich über das Land, Über ihm ragte Kensington Castle als eine dunkle Masse auf, in der nur wenige Lichter glänzten, als ob das Schloss aus dem Nebel hervorwachsen würde. Es war kalt. Die Themse gluckerte.
Stanwell, mit einem Wettermantel angezogen, versuchte ein letztes Mal, Anne zurückzuhalten.
»Wir sollten uns das noch einmal überlegen. Es ist so unheimlich. Und gefährlich. Wir haben es mit gewissenlosen Schurken zu tun.«
»Die Zeit des Überlegens und Pläneschmiedens ist vorbei. Jetzt muss gehandelt werden. Ich gehe durch den Wald zu der Seitenpforte, Onkel Peter. Du kannst hier warten.«
Anne war keine Einbrecherin. Doch sie hatte einen Dietrich bei sich, den sie mal bei einer Entrümpelung in eine Schublade gefunden hatte. Für alle Fälle hatte sie ihn behalten, sollte sie mal ein Schloss öffnen müssen, zu dem sie keinen Schlüssel besaß. Jetzt war es soweit.
»Ich begleite dich zum Schloss «, bot Stanwell an. »Himmel, du hast nicht mal eine Waffe!«
»Ich verfüge immerhin noch über die Waffen einer Frau«, antwortete Anne mit feinem Lächeln. Jetzt, da es hart auf hart ging, zeigte sie eine Kaltblütigkeit und Ruhe, die sie selbst verblüffte. Sie kam aus ihrem Inneren, aus einer seelischen Stärke, und sie konnte man nicht erlernen. »Zudem mein flinkes Mundwerk und meine Beine, um wegzulaufen. Davon abgesehen kann ich notfalls etwas finden, um damit dreinzuschlagen.«
»Hoffentlich reicht das. Hoffentlich geht das nicht ganz böse schief.«
»Du zitterst ja mehr als ich, Onkel Peter. Komm.«
Sie stiegen den Schlossberg hinauf. Anne trug dunkle Kleidung, Cord-Jeans, dunkle Tu rn schuhe und eine Jacke. Sie hatte ein schwarzes Tuch um die blonden Haare gewunden, damit sie nicht in der Dunkelheit einen hellen Fleck bildeten. Die Studentin konnte so leicht im Dunkel untertauchen.
Stanwell keuchte beim Aufstieg.
»Mein Herz! Ich bin nicht mehr der Jüngste.«
»Jetzt reiß dich zusammen, Onkel Peter! Oder bleib zurück. Ich kann nicht auf dich warten.«
Stanwell beschleunigte seinen Schritt. Endlich standen sie vor der Seitenpforte, die offen war.
»Na, um so besser. Sollte ich in spätestens drei Stunden nicht zurück sein, rufst du die Polizei, Onkel Peter.«
»Ja, ja. Ach Gott, ach Gott. Wäre ich bloß im Gerichtssaal oder in meiner Kanzlei.«
Ein Käuzchen schrie, und Stanwell zuckte heftig zusammen. Anne ließ den Zaghaften stehen, ging durch die Pforte, lauschte, schaute sich um und stieg die Treppe hoch, am Gewächshaus vorbei. Sie gelangte zum Schloss . Anne hatte eine Taschenlampe bei
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