Die verschwundene Lady (German Edition)
sich, die sie aber noch nicht zu benutzen brauchte. Der Innenhof des Schlosses lag verlassen. Nur in zwei Fenstern zum Innenhof schimmerte Licht. Es war kurz vor Mitternacht.
Anne lief zu einer Tür, die sie ebenfalls offen fand. Die junge Frau war in den linken Seitentrakt gelangt, der fürs Gesinde bestimmt war, jetzt jedoch zum größten Teil leer stand. Anne schlich durch die dunklen Gänge, die Taschenlampe uneingeschaltet vor sich haltend, mit klopfendem Herzen. Anne wünschte sich, wenigstens ein Tränengasspray mitgenommen zu haben. Sie dächte an den vergifteten Kater und den unheimlichen Mann im Trenchcoat.
Doch sie unterdrückte die Zaghaftigkeit. Wenn ihre Mutter im Schloss war, musste sie sich in den Gewölben b efinden. Doch erst einmal musste Anne den Zugang finden. Das ihr fremde, riesige Schloss war ein wahres Labyrinth, zumal noch im Dunkeln.
Dann hörte Anne Atemzüge und leise schleichende Schritte hinter sich. Als sie stehenblieb, verstummten sie. Anne lauschte. Sie riskierte es sogar, zurückzuleuchten. Doch im Lichtkegel der Taschenlampe war niemand zu sehen. Hatte sich Anne getäuscht, oder war der Verfolger im Dunkeln in ein Zimmer gehuscht? Anne konnte es nicht nachprüfen.
Sie knipste die Lampe wieder aus und ging weiter. Abermals hörte sie die Atemzüge und den leisen, schleichenden Schritt hinter sich. Doch als sie herumwirbelte und leuchtete, hatte sie wieder Pech.
Da war niemand zu sehen. Anne befand sich jetzt im Mi t teltrakt des Schlosses. Sie gelangte in die große Halle, an die sie sich vom letzten Besuch in Kensington Castle her gut erinnerte. Eine Notbeleuchtung brannte über der E ingangstür und gab einen schwachen Schein ab.
Jemand hüstelte im Dunkeln in dem Gang, durch den Anne gekommen war. Sie leuchtete wieder - da stand der Mann mit dem Trenchcoat, die klobigen Hände in den Taschen vergraben, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Langsam schritt er n äher. Anne konnte unter seine Hutkrempe sehen.
Es war Wallace Hampton, der grobschlächtige Gärtner. An n e blendete ihn.
»Kommen Sie mir nicht zu nahe! Bleiben Sie stehen!«
Plötzlich flammte der schmiedeeiserne Leuchter an der De c ke auf und übergoss die Halle mit den Wandpaneelen, Ritterrüstungen und alten Gemälden, den Fa rn en in Kübeln sowie dem zweiseitigen Treppe n aufgang mit grellem Licht. A nn e wurde von hinten gepackt. Ihre Stablampe klirrte auf die Steinfliesen.
Sie schaute über die Schulter - und sah ins Gesicht des Butlers._
»James Richards«, stellte er sich sardonisch vor. »Danke für Ihren Besuch. Das wusste ich doch, das Sie kommen. Unsere Nachrichtenkanäle sind ganz ausgezeichnet. Jetzt wollen wir Tacheles reden.«
Der backenbärtige Butler sprach wie ein Gauner. Er führte Anne, die sich zunächst nicht wehrte, in einen großen Salon, in dem ein Kaminfeuer brannte. Dort stieß er sie in einen Sessel. Der klobige Gärtner baute sich neben Anne auf. Er hatte den Trenchcoat aufgeknöpft und den Hut abgesetzt.
Der Butler durchsuchte routiniert Annes Taschen und war erleichtert, als er keine Waffe fand.
»Nun, liebe Miss , Sie suchen bestimmt Ihre Mutter?«
»Sie ist also hier?«
»Sie war es. Jetzt befindet sie sich im Cottage des Gärtners. Dort bringen wir Sie auch hin. Dem klapprigen Anwalt teile ich mit, er solle sich nur ganz ruhig verhalten und alle Forderungen erfüllen, sonst müssten Sie und Ihre Frau Mutter es büßen. - Verstanden?«
Schneidend und scharf klang die Stimme des Butlers.
»Wo ist Lord Henry ?«, fragte Anne. »Ihr handelt in seinem Auftrag? Ist er bloß zum Schein abgereist, oder wirklich, um sich ein Alibi zu verschaffen, dieser feine Liebhaber und Heiratsschwindler?«
»Ich muss Sie genauso bitter enttäuschen wie Ihre Frau Mutter, Miss Carmichael«, sagte der Butler zynisch. »Marion hatte nicht mit Lord Kensington Umgang, sondern mit meiner Wenigkeit, die sich mit einer raffinierten Geschichte in ihr Vertrauen einschlich und sie eroberte. Seine Lordschaft ist viel auf Reisen, die Lady lässt sich kaum blicken. Da kann ich schalten und walten, wie ich will. Zurzeit sind Wallace und ich allein im Schloss . Ich habe mir diese Geschichte ausgedacht, um in der Rolle Lord Kensingtons einen großen Fischzug zu machen, wie ich ihn mir schon lange erträumte. Wenn Sie es ganz genau wissen wollen, ist mein richtiger Name Morris Robson, und ich bin vorbestraft. Ich habe im Zuchthaus von Dartmoor gesessen. Dort lernte ich einen Fälscher kennen, der mir die
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