Die Verschwundenen
der Beifahrertür. Sie war ein wenig eingedrückt und klemmte. Dahinter saß ein jüngerer Mann, der benommen wirkte. Über seinem roten Shirt trug er eine offene Sportjacke. Cotton stellte sich das Gesicht unter einer Basecap vor. Ein Anflug von Zorn verlieh ihm zusätzliche Kräfte, und die Tür sprang auf.
Er zerrte Mr. Basecap aus dem Wagen, legte ihm Handschellen an und hatte das Gefühl, dass es doch eine göttliche Gerechtigkeit gab. Decker kümmerte sich um den graubärtigen Fahrer.
»Chris Ferreir«, sagte sie, als die Handschellen klickten. »Sie sind festgenommen wegen … wegen des Mordes an Laura Robinski …«
Sie blickte Cotton fragend an. Dem fiel jetzt erst ein, dass Decker ja nicht alles mitbekommen hatte von dem, was ihn auf Ferreirs Fährte gebracht hatte. Er sprang Decker bei – und es war eine lange Liste.
»Sie sind festgenommen wegen Entführung einer Bundesagentin, wegen mehrfachen Mordes, beispielsweise an der Maklerin Lydiah Bruckner, wegen versuchten Mordes an Bundesagenten und einer Zivilperson durch Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und wegen vielfacher Urkundenfälschung und Datendiebstahls. Der Staatsanwalt wird sicher eine schriftliche Vorlage brauchen, um Ihnen alles richtig vortragen zu können.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.« Ferreir biss die Zähne zusammen.
»Vorsicht«, sagte Cotton. »Was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Aber Ihr letztes aufgezeichnetes Gespräch mit unserem Kontaktmann Mason geht fast schon als Geständnis durch. Außerdem haben wir Ihre Leute – nicht nur den verhinderten Rennfahrer, den Sie heute wohl aus gutem Grund nicht ans Steuer gelassen haben, sondern auch das Pärchen, das in Ihrem Auftrag meine Kollegin verschleppt hat. Ihren Hacker, Aaron Parker, konnten wir ebenfalls aufspüren, als er stundenlang meinem Handy durch die Stadt gefolgt ist. Meine Kollegen haben mir berichtet, dass er deswegen stinksauer auf Sie ist und nicht gerade schweigsam.«
Cotton hatte Mr. High und den Rest des G-Teams noch von Bruckners Grundstück aus alarmiert, sobald er sich vergewissert hatte, dass Decker in Sicherheit war. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie aus New York eintrafen.
Inzwischen versammelten sich bereits die Schaulustigen aus den umliegenden Häusern. Vermutlich würde bald auch die örtliche Polizei auftauchen. Cotton seufzte. Bürokratie, Tatortabsperrung, Nachbesprechungen, Berichte lagen vor ihm …
»Es ist aus, Ferreir«, schloss er. »Es gibt keine falsche Identität mehr, hinter der Sie sich noch verstecken können.«
*
Später an diesem Abend lud er Decker in seine Lieblingsbar ein, um den erfolgreichen Abschluss des Falles zu feiern. So saßen sie bald zusammen im gemütlichen Mittelzimmer von Pete's Candy Store, auch wenn Cotton seine Zweifel hatte, ob er Decker von den Vorzügen der Bar überzeugen konnte. Jedenfalls hatte sie einen skeptischen Eindruck gemacht, bevor sie das Gebäude betreten hatten.
Cotton selbst fühlte sich zerschlagen nach diesem Tag und den Tagen davor. Er war buchstäblich durchs Feuer gegangen und nahm an, dass es Decker nicht besser ging. Es würde wohl bei einem kleinen Drink bleiben.
Wenn es nach Mr. High ginge, hätten sie beide sogar den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht.
Cotton lächelte.
Er hatte schon Schlimmeres überstanden.
Er wärmte den runden Boden seines Glases mit den Handflächen, hielt den Whisky gegen das Licht und genoss einen Augenblick lang dessen goldenen Schimmer, ehe er einen Schluck nahm. Der Talisker schmeckte nach Salz und Meer, wie der Anfang dieses Falles an den Docks; im Abgang blieb ein leichter Rauchgeruch am Gaumen, wie nach dem feurigen Finale vor dem Haus der unglücklichen Lydiah Bruckner.
Decker beobachtete, wie Cotton seinen Whisky trank.
»Wissen Sie«, sagte sie dann, »vielleicht nehme ich heute auch mal ein Glas von Ihrem Zeug. Ich würde gerne vergessen, wie weit ich bei diesem Fall danebengelegen habe.«
»So ein Single Malt Whisky ist zu schade, um seine Sorgen darin zu ertränken«, erwiderte Cotton. »Sie haben auch gar keinen Grund dazu. Hätten Sie Skalsky und Mason nicht so unter Druck gesetzt, wären die beiden nicht so schnell bereit gewesen, bei der Lösung des Falles zu helfen.«
Decker lachte leise auf. »Oh ja! Eigentlich hätten wir Mason auch einladen müssen. Er hat viel zur Lösung des Falles beigetragen.«
Cotton schüttelte den Kopf. »Nur weil er musste. Nach der Razzia mit Joe
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