Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht
schlieÃlich nur über einen Aspekt: über Sex. Da die Monogamie nun mal das vorherrschende Maà für den Erfolg als Paar ist â nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch in ihrem Berufsstand â und da diese auch unter den Komiteemitgliedern kaum infrage gestellt wurde, übernahm sie Bassons Konzept ins DSM . Es war auch diese Vorstellung, die Brotto bei der Arbeit mit ihren Patientinnen anwandte, von denen die meisten schon lange mit einem Sexualpartner zusammen waren. Sie erklärte ihnen den Kreislauf, brachte ihnen bei, dass »Verlangen auf Erregung folgt«. Und sie lehrte das als möglichen Weg, um der Unlust auf Sex zu begegnen .
Sieben Jahre? Oder zwei? Mehr oder weniger? Eine lange Bindung lieà sich unmöglich definieren, Wendepunkte kaum vorhersagen. Doch wenn Brotto ihren Patientinnen helfen konnte, stärker auf die Berührungen ihrer Partner zu reagieren, wenn sie ihnen dabei helfen konnte, mehr körperliche Erregung zu spüren, dann konnten diese, selbst wenn sie anfangs bei jeder beliebigen Begegnung desinteressiert auf die Initiativen ihrer Partner reagiert hatten, doch in einen Zustand von Verlangen geraten. Zu diesem Zweck lieà sie bei ihren Gruppensitzungen ein kleines Schälchen mit Rosinen herumgehen: unter sechs Frauen, die in einem kleinen, fensterlosen Besprechungsraum an ein paar zusammengeschobenen beigefarbenen Tischen saÃen. Sie bat jede Patientin, sich genau eine davon zu nehmen. »Beachten Sie die Oberfläche Ihrer Rosine«, forderte sie in beständigem Tonfall, »die Höhen und Tiefen, die Gipfel und dunklen Schluchten.«
Ihre Karriere, ihr Weg bis hin zur Rosinenübung und ihrem begehrten Platz im DSM -Komitee war von Zufällen bestimmt gewesen. Als Studentin im ersten Semester wusste sie nur, dass sie in die Forschung wollte, egal in welchem Fach. Daran, sich mit Sex zu beschäftigen, hatte sie nie gedacht. »Ich bin in einem strengen, katholischen Umfeld aufgewachsen, wo Sex ein Tabu war.« Selbst heute hängt noch ein silbernes Kreuz am Rückspiegel ihres Autos. Auf gut Glück hatte sie bei diversen Professoren angeklopft, in der Hoffnung, jemand würde sie als Assistentin annehmen. Doch niemand wollte sie, weil sie noch so jung war. Am Ende lud sie doch ein Professor ein, ihm bei einer Studie zur Wirkung von Antidepressiva auf die Libido männlicher Ratten zu helfen. Und so verbrachte sie ein paar Jahre mit einer Stoppuhr in der Hand vor kopulierenden Ratten. Kurz vor ihrer Promotion hatte sie dann genug von der Forschung mit Tieren und wandte sich der Klinikarbeit zu. »Weil es in diesem Raum mit den Ratten so stank«, meinte sie.
Im Rahmen ihrer weiteren Ausbildung arbeitete sie mit Borderline-Patienten. In diesem Zustand zerstört man sein Selbstbild auf schreckliche Weise. Die Menschen haben das Bedürfnis, sich zu schneiden oder zu verbrennen, um der grenzenlosen Verzweiflung mit begrenztem Schmerz zu begegnen. Brottos Doktorvater hatte eine Behandlung entwickelt, die sich an der buddhistischen Lehre von der Achtsamkeit orientierte. Die Idee dahinter ist, dass groÃe Aufmerksamkeit für unmittelbare und winzig kleine Erlebnisse, etwa die Atmung oder den Puls, dabei helfen kann, die Patienten in der Gegenwart zu halten und ihr Gefühl von unendlicher Qual zu reduzieren.
Während dieser Zeit versuchte Brotto gleichzeitig, auch Patientinnen mit Unterleibskrebs zu helfen, die nach einer Operation sexuelle Probleme hatten. Diese Frauen schilderten den Verlust ihrer Libido und beschrieben ihre Einsamkeit und Traurigkeit beim Sex auf eine Weise, die Brotto daran erinnerte, wie Patienten mit Borderline-Persönlichkeit ihr komplettes Leben wahrnahmen. Sie fragte sich also, ob Achtsamkeit nicht auch diesen Frauen helfen könnte, die Distanz zu überwinden und Nähe zu ihren Sinnesempfindungen herzustellen.
Dazu unterzog sie sich selbst einigen Experimenten. Sie hatte nicht den Eindruck, dass es ihr an Verlangen mangele, aber manchmal betrachtete sie sich eben gern als »Menge n mit der GröÃe 1«, als einzelne Probandin für ihre Ideen. AuÃer mit Achtsamkeit behandelte ihr Doktorvater Borderline-Persönlichkeiten auch mit kognitiver Therapie. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Transformierung von Denkmustern sowie dem Ablegen einer vernichtenden Selbsteinschätzung. Eines Tages probierte Brotto beim Yoga eine Kombination von beidem aus.
Während sie
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