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Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht

Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht

Titel: Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ihren Körper in die gewohnten Yogapositionen brachte, versuchte sie, sich kognitiv neu auszurichten. »Ich sagte mir immer wieder, wie ein Mantra, dass ich eine ausgesprochen sexuell geprägte, höchst erregbare Frau bin. Nicht, dass ich bis dato asexuell gewesen wäre, aber nun sagte ich mir diese Dinge ganz bewusst und verinnerlichte diese Persönlichkeit. Dazu kam die Achtsamkeit. Die gehört ohnehin zum Yoga; man ist sich dessen, was der eigene Körper tut, ganz bewusst. Man achtet auf seinen Atem, seinen Herzschlag. An jenem Tag nahm ich mir jedoch explizit vor, nicht nur stärker als sonst beim Yoga auf meinen Körper zu lauschen, sondern auch seine Zeichen als Zeichen meiner sexuellen Identität wahrzunehmen. Mein Atmen war also nicht nur Atmen in der jeweiligen Pose, sondern es war Atmen, weil ich so ausgesprochen sexuell ausgerichtet war.«
    Empfindung und Selbstbild wurden miteinander verknüpft. Sie befand sich in einer schwierigen Pose – gebückt, auf einem Fuß und einer nach innen gedrehten Hand balancierend –, als sie einen tief greifenden Moment erlebte. Dabei war ja nichts, was sie da mental ausprobierte, weltbewegend neu. Die Macht positiven Denkens gilt schon als Klischee. Und die starke Konzentration aufs Sensorische haben die Sextherapeuten Masters und Johnson schon Jahrzehnte vorher praktiziert. Trotzdem waren ihre angestreng ten Muskeln und ihr erhöhter Puls Affirmationen von »meiner sexuellen Kraft, meiner Erregbarkeit«. Sie beendete den Unterricht, ging auf die Straße hinaus und fuhr mit einem berauschenden Körpergefühl und Bewusstsein ihrer Stärke mit dem Fahrrad nach Hause.
    Brotto nahm das, was sie bei der Behandlung der Borderliner gelernt hatte – die Rosinenübung stammte aus dieser Therapie – und was sie an sich selbst beim Yoga entdeckt hatte, und testete es zunächst mit ihren Krebspatientinnen, anschließend mit einer Reihe von Frauen, die extrem unter ihrem schwach ausgeprägten Verlangen litten. Heute entlässt sie ihre Therapiegruppen mit der Hausaufgabe, sich immer und immer wieder vorzusagen »Mein Körper ist lebendig und sexuell« – egal, ob sie selbst das glauben oder nicht. In dem Konferenzraum gibt sie ihnen folgende Anweisung: »Bringen Sie die Rosine an Ihre Lippen … Merken Sie, wie Ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft … Stecken Sie die Rosine in Ihren Mund, aber zerkauen Sie sie noch nicht. Schließen Sie die Augen und registrieren Sie nur, wie sich das anfühlt … Spüren Sie, wo Ihre Zunge sich befindet und wie die Speichelproduktion zunimmt … Zerbeißen Sie mit den Zähnen die Oberfläche. Merken Sie, wie der Geschmack in Ihrem Mund explodiert, den Speichelfluss, die Veränderung des Geschmacks durch die Chemie Ihres Körpers. Spüren Sie die Bewegung Ihrer Kiefer beim Kauen, das Gefühl, wenn die Rosine beim Schlucken Ihre Speiseröhre passiert. Achten Sie auf den Nachgeschmack und selbst noch auf das Echo des Nachgeschmacks.«
    Sie publizierte ihre Ergebnisse in den führenden Fachzeitschriften zur Sexualforschung und stellte dort Patientinnen vor, die von verstärkter Libido und verbesserten Beziehungen berichteten. Gleichzeitig war sie sich aber auch aller Vorbehalte bewusst: dass Verlangen nicht leicht zu messen ist; dass Menschen dazu neigen, eine Verbesserung anzugeben, wenn ihre Therapeuten sie dazu befragen; dass praktisch jegliche Methode, die jemand zum Nachdenken über Sex bringt, dessen Interesse daran erhöhen kann. Und Brotto behauptete auch nicht, ihren Patientinnen gewähren zu können, was diese sich eigentlich wünschten. Sie zitierte für mich aus ihren Unterlagen: »Ich möchte Sex haben, nach dem ich lechze.« Sie seufzte. Ohne ein kleines Wunder oder jemand Neuen im Bett der Patientin war das nicht zu bewerkstelligen.
    Ich fragte sie nach der Ironie, die das in Bezug auf ihre Arbeit für das DSM bedeutete: weil Störungen ja eigentlich abnorm sein sollen, HSDD aber doch eine normale Abnormität zu sein scheint; ein Zustand, der üblicherweise keine psychiatrische Erkrankung darstellt, sondern durch unsere am stärksten verbreitete Form des Zusammenlebens entsteht. Diesen Eindruck bestätigten ihr alle Frauen, mit denen sie zu tun hatte und die ihr versicherten, dass sie nicht aufgehört hätten zu begehren, sondern nur aufgehört hätten, ihre Partner zu wollen,

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