Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht
Online-Tagebuch machen sollte, wenn sie sich eine Tablette auf die Zunge legte.
»Ich weiÃ, ich weië, gab Wendy zu. »Ein Durcheinander. Ich vergesse es immer wieder.« Zwei oder drei Minuten lang zeigte ihre gut gelaunte Fassade Risse. Tränen kamen ihr nicht, aber hinter den fröhlichen Worten war ein Anflug von Furcht auszumachen. Bald würde sie wieder drauÃen sein, in ihrem Auto, im Sonnenschein, auf dem Weg fort von hier. Sie würde an diesem Nachmittag im Mai losfahren, um ihre zehnjährige Tochter vom Lacrosse-Training abzuholen. Aber vorher erklärte sie Miller noch, sie habe das Medikament genommen, nichts gespürt, nichts mit ihrem Mann gemacht, sei eingeschlafen und habe am nächsten Tag das Tagebuch vergessen. Aber sie habe nur den Eintrag vergessen. Sie hoffte, dass die Tabletten ihrer ersten Runde nur Placebos gewesen waren.
Als Reaktion auf Werbung im Radio, in Tageszeitungen und im Internet hatten Frauen sich den ganzen Herbst und Winter über für die Studien angemeldet. Ich hatte das Prozedere in einer anderen Klinik nahe dem Zentrum von Washington beobachtet. Die winzige Pharmafirma Emotional Brain ( EB ) hatte Stützpunkte im ganzen Land angeworben, psychologische und gynäkologische Kliniken genauso wie Hausarztpraxen. Manche beteiligten sich nur, weil medizinische Studien zu ihrem Spektrum gehörten, andere, weil sie glaubten, EB s Erfindungen Lybrido und Lybridos könnten sich genug von den Erzeugnissen anderer Unternehmen unterscheiden, könnten in der Zusammensetzung so ausgeklügelt und in der Dosierung so präzise sein, dass sie als erste Aphrodisiaka von der FDA zugelassen würden. Damit hätten die Ãrzte erstmals etwas, das zuverlässig erfolgreich und von der Behörde geprüft wäre, um es Frauen wie Wendy zu verschreiben.
»Sie verwenden wirklich heftige Formulierungen, wenn sie darüber reden, Worte, aus denen geradezu Gewalt spricht«, verriet mir Andrew Goldstein, der die Studie in Washington betreute, über seine Patientinnen. Das Licht in seinem Büro war warm. Gegenüber von seinen Diplomen hing die Nahaufnahme eines Kirschbaums an der Wand. »Sie sagen Dinge wie: Das ist, als hätte mir jemand einen Arm abgeschlagen, das bin eigentlich nicht ich selbst. Als wäre mir etwas geraubt worden. Entrissen. Gestohlen.« Er gehörte zu den prominentesten Gynäkologen des Landes, war Präsident der International Society for the Study of Womenâs Sexual Health. Und er war alles andere als überschwänglich. Er würde nicht finanziell davon profitieren, falls die Daten der Studie sich bezahlt machten, falls die beiden Medikamente die Placebos aus dem Ring schlugen, falls die Nebenwirkungen mild waren, falls die FDA ihren Segen gab. Er hatte sich schon an Studien für andere Medikamente beteiligt, für Moleküle, mit denen Pharmariesen dasselbe Gefühl der Verzweiflung angingen, das Gefühl schwindenden Verlangens â und damit einen Markt mit einem Potenzial von mehr als vier Milliarden Dollar jährlich nur in den USA . Dann hatte er zwei Jahre lang eine Pause eingelegt, aus Frust. Aber Lybrido und Lybridos hatten seine Hoffnung neu geweckt. Und nicht nur das. Die Diagnosemethoden von EB , die Berücksichtigung genetischer und erworbener Faktoren durch Blutuntersuchungen und Interviews sowie der Algorithmus, der diese Daten zusammenfasste und verarbeitete, würden neue Einblicke in die weibliche Sexualität ermöglichen.
»Die Instrumente, die wir bis jetzt benutzt haben, waren wie Beile aus Feuerstein«, stellte Goldstein klar. Was in seinem Arbeitsgebiet bislang zum Verständnis und zur Behandlung verwendet wurde, war so plump und grob gewesen, als stamme es aus der Steinzeit. Als wir uns zwischen seinen Gesprächen mit potenziellen Probandinnen unterhielten, trug er ein blau-weià gestreiftes Hemd und einen weiÃen Arztkittel. Seine Stimme war heiser und hoch. Er hatte ein rundliches, freundliches Gesicht und volles graues Haar, sodass er zugleich kindlich und weise wirkte. Das Grau schien zu verschwinden, wenn er über den Algorithmus von EB und die Pillen sprach. »Gütiger Gott, das ist genauestens abgestimmt !«
Er sagte, falls sich rausstellen sollte, dass EB einen Treffer gelandet hatte, würde das fantastische, spezifische und immense Veränderungen nach sich ziehen. Dann hätte er ein Medikament, um einem Teil seiner
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