Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
nicht. Alles kam in ihm hoch. Es war schlimm. Doch was
Ceela alles erlebt hatte und erleben musste, das schockierte ihn zutiefst. Es
war, als würde er sich seine eigene Geschichte anhören. Doch so war es nicht,
es war ihre beängstigende Vergangenheit und nicht seine. Das wusste er. Ihn traf
trotzdem jedes ihrer Worte wie ein Schlag.
Stille. Alle schliefen. Bis auf die beiden und den Busfahrer.
Schweigen. Immer noch verstört von ihren Worten, wollte Jay das einsame
Schweigen brechen. „Es tut mir leid“, flüsterte er.
Ihr Kopf hob sich. Wieder spürte er, wie sie ihn ansah. Wie konnte sie
das? Ihr Blick war so intensiv, trotzdem sanft, so stark, aber auch unsicher. Sie
weinte nicht mehr. Sie lächelte aber auch nicht. Neutral. Doch langsam
entspannten sich ihre Züge wieder. Müdigkeit kam in den beiden hoch. Gähnende
Leere. Sie schloss die Augen, legte den Kopf gegen das große Fenster und
schlief ein. Jay lächelte und mit dem Lächeln auf den Lippen glitt auch er in
den erholsamen Schlaf.
Kapitel 5
In der Ferne erhob sich langsam die Sonne hinter den Rocky Mountains.
Sie tauchte die noch waldbewachsene Landschaft in warmes apricot. Mit der
Sonne erwachte auch Jay. Schläfrig öffnete er die Augen. Sanft strahlte ihn das
rosige Morgenlicht an. Zufrieden blickte er sich um. Der Bus hatte angehalten.
Wann genau in der Nacht er gestoppt hatte, wusste er nicht. Sie befanden sich
auf einer kleinen Waldlichtung. So wirklich offiziell sahen die schmalen
Schotterwege in der Nähe nicht wirklich aus. Neben ihrem Bus hatten auch die
anderen beiden Busse angehalten und die Nacht verbracht. Langsam stand Jay von
seinem klapprigen Sitz auf. Er schlenderte durch den schmalen Gang in der Mitte
und verließ das Fahrzeug durch die vordere Tür. Er streifte seine Schuhe ab und
ging barfuß über die Wiese. Er spürte das nasse Gras unter seinen nackten
Füßen. Die Tautropfen glitzerten in der Morgensonne. Er atmete tief die klare
Waldluft ein, inhalierte die Düfte der Kräuter, Wildblumen und den Geruch der
rauen Baumrinde. Er schloss die Augen und konzentrierte sich nun nur auf die
Geräusche des Waldes. Die Vögel in der Ferne pfiffen, das Gras rauschte leise
und ruhig im schwachen Wind, und ein Rascheln. Das Rascheln wurde immer lauter,
kam näher. Jay riss die Augen auf und drehte sich blitzartig instinktiv in die
Richtung der Quelle des Geräuschs. Er blickte in die unendlichen grünen Augen
von Jason. Erleichtert wurden Jays Züge weicher und entspannter.
„So früh schon auf, Jay?“, fragte er herzlich.
„Ja“, entgegnete Jay freundlich.
Er konnte Jason von Anfang an gut leiden, doch er musste immer noch die
Eindrücke von Jasons eindringlicher Rede in dem Raum des Venus-Reservates
verarbeiten. Jason wartete immer noch, ob doch noch ein Teil, eine Antwort
folgte. Jay fügte rasch hinzu: „Und du? Warum bist du schon wach?“
„Ich hätte als erstes wach sein sollen, ich pass doch auf euch auf. Ich
konnte ja nicht ahnen, dass wir diesen Monat solche Frühaufsteher mit dabei
haben.“ Jason lachte gutmütig und ausgelassen. Dann befahl er Jay mit einem
Blick, sich umzudrehen. Jay gehorchte und drehte den Kopf in Jasons
Blickrichtung. „Sieh mal, wer da kommt“, verkündete Jason lauthals und
lächelte.
Langsam tastete sie sich an der Außenseite des Busses entlang. Ihre
blonden Locken waren zerzaust und fielen ihr so vertraut ins Gesicht. Sie
lächelte ebenfalls als sie Jasons Stimme wahrnahm. Sie trug immer noch das
weiße Einheitskleid, das gerade an ihrem dünnen Körper hing. In der Nacht hatte
sie sich weiße Wollkniestrümpfe übergezogen, die sie auch jetzt noch trug. Um
ihre Füße schmiegten sich die durchgelaufenen weißen Leinenschuhe, die locker
zusammengebunden waren. „Guten Morgen“, sagte sie mit zarter Stimme, als sie
neben den beiden angekommen war.
„Guten Morgen, Ceela“, begrüßte Jay sie liebevoll.
„Guten Morgen, Fräulein Nish. Gut geschlafen?“, fragte Jason, obwohl er
sich über ihre Antwort ziemlich sicher war.
„Wie man ebenso schläft auf einem klapprigen Bussitz.“, antwortete sie
gelassen. Genau diese Antwort wurde erwartet. Kein Wunder.
„Wann geht es eigentlich weiter?“, fragte Jay neugierig.
„Ich denke, wir werden schon bald wieder aufbrechen, damit wir zeitig
im Reservat ankommen“, antwortete Jason. Sein ausgelassenes Lächeln verblasste
langsam und sein Blick wurde ernst und bedacht, als er hinzufügte: „Genießt
eure Freiheit noch,
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