Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
verbrannte Fleisch in ihrem Gesicht gleiten. Es war
rosa, sah so empfindlich aus, so verletzbar, trotzdem doch so friedlich rosig.
Er fing ihren toten Blick auf, hielt ihn aufrecht. Ruhig fragte er:
„Warum bist du blind? Was war geschehen?“
Ihr toter Blick bohrte sich in seine Augen, so eindringlich, so stark.
Doch sie war blind, das wusste er. Trotzdem fühlte er, dass sie ihn sah. Er
spürte es. Er lächelte sanft. Sie schwieg immer noch, überlegte, wie sie das
alles in Worte fassen sollte. Es gab so viel zu sagen, doch wie? Welche Worte
würden das beschreiben, was geschehen war, würden nur annähernd so intensiv
sein, wie die wahre Geschichte? Sie begann von Anfang an, ihre Stimme zitterte:
„Ich bin blind. Ich war schon immer blind, von Geburt an. Ein
Gendefekt. Meine Eltern waren perfekt, so schien es. So wollten sie zumindest
sein. Sie waren hoch angesehene Citizas, gehörten zu den Perfekten. Doch ich
war der Beweis, dass ihre Gene fehlerhaft waren, ich war der Fehler.
Das passte ihnen nicht, sie wollten keinen unperfekten Menschen in ihrer
Familie. Ihnen war ihr Ansehen wichtiger, als ihr leibliches Kind. Sie hielten
mich geheim, versteckten mich, bis es soweit war. Ich war zwei Jahre. Man
konnte mich nicht mehr so gut verstecken. Ich war lebhaft, zu lebhaft. Meine
Mutter sah mich verzweifelt an. Mein Vater sah mir in die Augen. Ich konnte
alles fühlen, ihre Blicke. Seiner war kalt, nicht die leiseste Spur von Reue,
nichts. Er schlug mich, er ohrfeigte mich, bis meine Wange aufplatzte. Ich
schrie, das Blut lief über mein geblümtes Sommerkleid. Der Moment war so, so
intensiv, so deutlich. Jedes Detail ist wie in mich gebrannt. Ich kann nicht
vergessen. Ich kann nicht. Ich war zu laut. Mein Vater drückte mir ein Kissen
auf mein Gesicht. Ich schnappte nach Luft. Keine Luft. Der weiche Stoff klebte
in meinem Mund. Er presste das Kissen immer fester. Ich versuchte zu schreien.
Es ging nicht. Kostete zu viel Luft, zu viel Energie. Ich war noch so schwach,
so verletzbar…“
Eine Träne löste sich aus ihren glasigen Augen und floss über das
verbrannte rosa Fleisch ihrer verletzten Wange, perlte am Kinn ab und zersprang
in tausend glitzernde Teilchen, als sie auf den Boden trat. Er hielt stumm ihre
Hand, gab ihr Halt, gab ihr Wärme, er würde sie nicht loslassen. Er war bei
ihr. Sie fuhr fort:
„…Mein Vater wollte mich ersticken, er wollte es wirklich tun! Purer
Hass, tiefste Verachtung und Abscheu. Ich sah sie, in meinem Kopf. Das war die
Wahrheit. Meine Mutter schwieg, doch ich spürte, sie konnte es nicht mit
ansehen. Ich schwieg, meine Züge entspannten sich, meine Glieder lockerten
sich. Ich glitt aus seinen Armen. Er löste das Kissen. Alles war noch dunkler
als sonst. Ich konnte nichts mehr spüren. Alles war weg. Alles war tot. Ich war tot. Mein Vater wusste es, meine Mutter wusste es, Ich wusste es. Es war
endlich vorbei. Sie legten mich in einem verlassenen Wald ab, an einem See.
Alles war still. Wind wehte. Leise und sanft, wog der Wind. Ich war nicht tot,
noch nicht. Es war noch nicht vorbei, diese Ruhe, diese Geborgenheit riss mich
zurück in mein Leben, rief mich wieder zurück, lockte mich, wieder umzukehren.
Ich tat es. Ich wachte auf. Ich zitterte. Der Wind war kalt. Ich hörte Stimmen.
Echte Stimmen. Menschen. Sie kamen zum Angeln. Ich flüsterte Hier bin ich .
Sie drehten sich, ich weiß nicht wie sie mich hören konnten, doch sie taten es.
Sie hörten mich und sie sahen mich. Ich war so schwach. Alles verschwamm. Ich
sank wieder weg. Das nächste woran ich mich erinnern kann, war, als ich mich im
Waisenhaus wiederfand...“
Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte nicht mehr erzählen, sie wollte
es nicht. Sie hatte niemandem bisher davon erzählt, es niemandem anvertraut.
Doch Jay konnte sie sich anvertrauen, sie konnte ihm vertrauen. Zu viel
wollte sie dennoch nicht preisgeben. Er hatte ihr ja auch nichts von sich
erzählt. Außer von seiner Schwester. Mehr wusste sie über ihn nicht. Wer war
er?
Überwältig von der mitreißenden tragischen Vergangenheit des blinden
Mädchens sah Jay mit leerem Blick auf den Boden. Beschämt. Er hatte es in
seinem Leben nie einfach. Alles war hart und kompliziert. Er war die letzten
Tage in solchem Selbstmitleid versunken, dass er vergaß, dass er nicht der
einzige war, der es nicht immer einfach hatte. Auch wenn er seine harte
Vergangenheit versuchte auszublenden, versuchte zu vergessen, was geschehen
war, trotzdem konnte er
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