Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
Sie schloss ihre Augen und
öffnete sie wieder. Mehrmals. Langsam verschwanden die Bilder und sie sah
wieder ihre wirkliche Umgebung.
Ceela hielt ihre Hand, flüsterte ihr beruhigende Worte zu.
„Alles wird gut. Ich bin bei dir.“ Sanft und leise drang ihre Stimme zu
Grace vor.
Ängstlich schaute Grace zu ihr hoch. Sie lag über zwei Sitze
ausgestreckt im Bus. Ceela kniete vor ihr, war bei ihr.
„Leg dich wieder hin. Schlaf weiter.“
Der Schlaf klang so verlockend. Er stand vor ihr und empfing sie mit
offenen Armen. Doch sie konnte sich ihm nicht hingeben.
„Ich kann nicht….ich stehe das nicht noch einmal durch, du musst mich
wachhalten….bitte…“, sagte Grace schwach.
Der Schlaf war zu ihrem besten Freund und zu ihrem schlimmsten Feind
geworden. Er erlöste sie von der hoffnungslosen Realität, doch er verbannte sie
in eine Welt voller Albträume, voller schmerzhafter Erinnerungen an die letzten
Tage. Der Tod ihrer Schwester lag wie ein Schleier vor ihren Augen. Sie konnte
die Bilder nicht vergessen! im Schlaf war sie verwundbar, angreifbar. Sie
wollte nicht alles erneut und wieder und wieder sehen müssen, das würde sie
umbringen. Sie war müde. Ihre Augen fielen zu. Sie kämpfte mit sich selbst. Sie
war schwach, zu schwach. Sie verlor. Sie schlief ein. Alles nur, um ein paar
Minuten später schreiend und schweißnass aufzuwachen. Sie weinte, sie schrie.
Sie keuchte und schluckte ein paar Mal heftig.
„Wie war ihr Name?“, fragte Ceela liebevoll und hielt immer noch ihre
Hand. Das gab Grace Kraft.
„Hope. Meine Eltern nannten sie Hope. Sie wollten die Hoffnung an sie
nie aufgeben. Sie haben immer an sie geglaubt.“
„Deine Eltern sind bestimmt tolle Menschen. Du schuldest es ihnen, dass
du jetzt stark bist, dass du durchhältst. Tu es für deine Eltern und für Hope,
sie würden nicht wollen, dass du aufgibst, dass du dich selbst verlierst.“
Sie weinte immer noch. Sie war traurig, konnte nicht klar denken. Doch
eins wusste sie, Ceela hatte Recht. Sie durfte ihre Eltern nicht im Stich
lassen. Ihre beiden Töchter waren schon weit von ihnen entfernt, doch eine war
nun ganz weg, unerreichbar, sie durften nicht auch noch ihre zweite Tochter
ganz verlieren. Das konnte Grace ihnen nicht zumuten. Sie würde stark sein, sie
würde durchhalten. Sie würde alles versuchen, sie würde ihre Eltern
wiedersehen, sie würde ihnen Hoffnung schenken, trotz dem Tod von Hope.
Kapitel 12
Über Nacht war das Gesicht der Landschaft ein ganz Anderes geworden.
Der sandige Wüstenboden wich festem trockenem Grund, der immer fruchtbarer
wurde. Auf ihm grünten die ersten Pflanzen, die sie seit Wochen gesehen hatten.
In weiter Ferne türmten sich die ersten Bäume auf. Sie kündigten den Wald an,
die Reservate. Es war bald soweit. Doch waren sie schon bereit? Ceela
spürte die Anspannung, die Ungewissheit, die sie umgab. Sie wusste es, sie
wären bald da. Sie hatte Angst vor dem, was sie dort erwarten würde. Doch sie
versuchte das Gute zu sehen. Vielleicht würde Grace ein wenig Abwechslung oder
Ablenkung finden. Die Hoffnung durfte nie sterben. Sie musste stark sein, Ceela
wollte ihr beistehen, egal wie hoch der Preis dafür war. Wenn es darum geht,
einem Menschen zu helfen mit der Trauer klarzukommen, war sie immer bereit
dazu. Sie hatte solch eine Hilfe nie bekommen, als sie sie gebraucht hätte. Sie
wollte nicht, dass Grace denselben Fehler machte, wie sie ihn gemacht hatte.
Die Stunden vergingen still und bedrückt. Keiner wollte etwas sagen.
Sie waren nun voll und ganz von Bäumen umgeben, waren von den blassgrünen
Blättern und den dunklen Ästen umhüllt. Der Wald wirkte friedlich, noch halb
schlafend. Ein Spiel aus Licht und Schatten, als das Spiegelbild der
Morgensonne langsam in den Tautropfen zu erkennen war. Es glitzerte im ganzen
Wald - Tautropfen wie Perlen. Der Moment war unbeschreiblich. Atemlos blickten
alle aus den Fenstern, fasziniert von der Schönheit der Natur. Ceela atmete
tief ein, die klare Waldluft am Morgen war ein willkommenes Geschenk. Sie hörte
leise kleine Vögel zwitschern, kleine Mäuse fiepen, das Rauschen des Windes in
den Blättern, einen entfernten Bach plätschern. Sie hörte den Pulsschlag des
Waldes. Es war so wundervoll! Auch wenn sie es nicht sehen konnte, war es
mindestens genauso schön anzuhören, wie ein ganzer Wald aus dem Schlaf erwacht.
Das wollte sie mit Grace teilen, die stumm neben ihr saß und auf den Boden
blickte.
„Schließ deine Augen“,
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