Die Verstummten: Thriller (German Edition)
ist gerade dabei.« Sie legte ihm den Ordner auf den Schoß. Jetzt, wo sie es aussprach, klang es alles andere als verdächtig. Wieso sollte ein Psychologe nicht seine Angehörigen therapieren dürfen? Auch wenn er befangen war, verboten war es, soviel sie wusste, nicht.
»Für einen Durchsuchungsbefehl reicht es nicht.« Matte überflog die Seiten in dem Ordner. »Und außerdem müsste ich dem Staatsanwalt erklären, was du dort im Keller verloren hattest. Aber der Kioskbetreiber aus der Schwimmhalle hat sich aus dem Urlaub gemeldet. Er hatte am Freitag schon zu, Richard ist also nicht wie sonst bei ihm gesessen und hat auf Frau und Kind gewartet. Wir gehen da jetzt mal rein, vielleicht kann er was zu Enricos Behauptung sagen, es seien mehrere Täter gewesen.«
»Gibt es was Neues zu den beiden anderen vermissten Mädchen?«
»Ja, die sind wieder wohlbehalten bei ihrer Familie. Weil sie nicht in Urlaub fahren durften wie alle anderen, sind sie selbst ausgebüxt mit Koffer und allem Drum und Dran. Kaum war die Fahndung angelaufen, haben wir sie kurz vor dem Hauptbahnhof aufgespürt. Aber sie weigerten sich bei uns einzusteigen, so sehen keine Polizisten aus, haben sie gesagt, noch dazu einer mit einem Blindenstock. Das wäre bestimmt nur ein Trick, um Mitleid zu erregen und sie ins Auto zu locken. Erst als ich Rüdiger verständigt habe und der mit Blaulicht im Streifenwagen angebraust kam, sind sie mitgefahren.« Er hievte sich zur Tür, griff nach dem Walkingstock und stakste damit die Straße entlang, bis zur Nummer vierundzwanzig. Carina folgte ihm.
Es dauerte eine Weile, bis Richard öffnete. Bevor Matte mit der üblichen Floskel, dass sie noch ein paar Fragen hätten, um Eintritt bitten konnte, fiel ihm Richard ins Wort. »Ich wollte Sie gerade anrufen, aber da habe ich Ihre Tochter schon gesehen. Es ist überstanden.« Er wies ihnen mit ausgestrecktem Arm den Weg ins Wohnzimmer. Carina wusste nicht, was ihr Vater erwartet hatte, aber ihr verschlug es die Sprache, als sie das Mädchen in eine Decke gewickelt auf der weißen Ledercouch liegen sah.
»Flora ist wieder da. Sie hat sich irgendwo versteckt, mir aber noch nicht verraten, wo. Hauptsache, sie ist wohlbehalten zurück, finden Sie nicht auch? Ruhe ist jetzt das Allerwichtigste.« Das Mädchen zog fast unmerklich die Beine an, als ihr Onkel sich neben sie setzte.
Carina trat vorsichtig näher und kniete sich auf den Teppich zwischen Tisch und Couch, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein. Flora presste die Fäuste an die Ohren und kniff die Augen fest zusammen. Für einen Moment glaubte Carina so etwas wie einen Injektionsnadeleinstich an Floras Hals gesehen zu haben. Sie beugte sich zu dem Mädchen vor. »Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, dann wird man unsichtbar«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Das habe ich auch schon oft versucht.«
»Sie schämt sich, dass sie sich so lange versteckt hat. Ist doch verständlich, meinen Sie nicht?« Richard schlug die langen Beine übereinander, entblößte einen Streifen schwarzbehaarter Waden zwischen Hosensaum und heruntergerutschten cremefarbenen Socken. Seine weißen Schuhe wirkten im Gegensatz zum letzten Mal abgenutzter. Das Leder war matt und an den Kanten grau, so als hätte er Fußball damit gespielt.
Oder geputzt, dachte Carina. Sie kochte innerlich. Was für eine Inszenierung! Warum schritt ihr Vater nicht ein? Am liebsten hätte sie die Kleine gepackt und wäre hinausgerannt. Aber sie wollte sie nicht noch mehr ängstigen. »Darf ich mal sehen, wie es dir geht, Flora? Ich würde gern nur kurz schauen, ob dir auch nichts fehlt, ja?«
»Als Gerichtsmedizinerin … ?« Richard betonte Gericht mit gerümpfter Nase. » Sie wissen, glaube ich, nicht, was lebenden Kindern fehlt.«
Carina musste sich beherrschen. Er hatte womöglich seinen Sohn fast zu Tode geschüttelt, und jetzt hockte er da und tat so, als wäre er eine Koryphäe der Kindermedizin und könnte Floras Zustand beurteilen. Sie fummelte nach dem Handy in ihrer Tasche, fand es jedoch nicht. Hatte sie es auf Frau Mayerhofers Fußabstreifer liegen lassen? Nein, in der hinteren Hosentasche fühlte sie es. »Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Warte.« Matte klopfte neben sich auf die Couch, wie um einen Hund herzulocken. »Setz dich einen Moment. Bitte«, fügte er leise an, mit diesem Blick, dem sie eigentlich nicht mehr hatte nachgeben wollen. Aber nun zwang sie sich zur Ruhe und setzte sich an die Kopfseite der Couch, so nah wie
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