Die Verstummten: Thriller (German Edition)
ihn quer durch München verfolgt. Mit einem Mini kommt man vermutlich in der verstopften Innenstadt schneller durch als mit so einem klobigen BMW , trotzdem hat Enrico sie aber erst auf der Autobahn abhängen können, als er verkehrt aus dem Rastplatz fuhr.«
Carina atmete schwer. Sie konnte kaum folgen. Sie schubste Bingo herunter, rieb sich die Brust und erhob sich. Hinter den Fenstern von Olivia und Jakobs Haus bewegte sich etwas. Schnell duckte sie sich wieder. Richard war am Küchenfenster aufgetaucht, als wäre das ganz selbstverständlich. Er hatte ebenfalls einen Hörer am Ohr und winkte ihr sogar, als er sie bemerkte. Sie erschrak, stolperte rückwärts bis zum Fußabstreifer und ließ sich fallen.
»Lamberts Blut auf der Kellertreppe, die Einschüsse in der Wand, es könnte durchaus so gewesen sein.« Ihr Vater schien nichts zu bemerken. »Bisher ist nur der Leichnam von Felix Jering in Neumaising gefunden worden, Sascha Lambert ist flüchtig. Peter hat da ganze Arbeit geleistet, der macht sich, der junge Kriminalmeister. Jetzt ist er bei dem Jungen im Krankenhaus. Enrico hat die beiden aus einer Reihe Fotos eindeutig als seine Verfolger wiedererkannt.« Matte stockte. »Wo warst du eigentlich, als dieses Waldhäuschen in die Luft flog? Peter wollte es mir nicht sagen. Was ist überhaupt los? Wo bist du, ich hör dich keuchen. Geht’s dir nicht gut?«
Sie setzte sich wieder auf und atmete mehrmals tief ein und aus. Jetzt war keine Zeit für große Erklärungen. »Hast du Richard Loos überprüft?«
»Meinst du zur Tatzeit des Doppelmords oder im Zusammenhang mit dem vermissten Mädchen?«
»Beides. Hast du?«, drängte sie, schlug noch einmal den Ordner auf und überflog Anja Loos’ Diagnose.
»Sie waren beim Babyschwimmen, als das Ehepaar erschossen wurde, mit ihrem Sohn, einem Schreikind, das schläft so gut wie nie. Ich hab den Kleinen kennengelernt, er ist erst ein paar Wochen alt.«
Carina konnte sich vorstellen, wie ihr Vater bei der Heulvorführung zusammengezuckt war. Bei Kleinkindern war er hilflos, vielleicht weil sie auf seine Vernehmungskunst nicht ansprachen. »Anja oder Richard haben ihren zwei Monate alten Sohn fast zu Tode geschüttelt, er wird oder wurde vorhin operiert und liegt auf der Intensiv. Silvia kennt alle drei von der Entbindung. Richard ist der, der sie angezeigt hat.« Das wusste er doch hoffentlich schon von seiner Frau selbst. »Kannst du herkommen? Ich bin hier vor Ort, in der Rabenkopfstraße. Flora ist vermutlich … «, sie biss sich auf die Zunge. Rechtsmediziner stellten keine Vermutungen an, das taten nur Polizisten. Ach was, scheiß drauf! »Sie ist vermutlich in seiner Gewalt. Und ich habe Olivias zweiten Brautschuh gefunden. Er liegt in Richards Keller.« Matte am anderen Ende der Leitung war verstummt; sie blätterte jetzt die letzte Seite von Anjas Akte um. Auf die Rückseite war der Name Flora gekritzelt, und daneben stand: Malt ungewöhnliche Bilder, Synästhetin. Kann mir vielleicht die Angst nehmen.
Welche Angst?
Montag
Zweiundachtzig Stunden nach dem Ursprung
Ich sah die Sonne hängen – mystisch geflecktes Grauen,
Und violett, geronnen, Leuchtstreifen, endlos weit,
Und sah die Fluten schaufeln und groß die Bühne bauen,
Ein Schauspiel sah ich spielen, das alt war wie die Zeit!
Arthur Rimbaud
69.
Als Carina den Ford ihres Vaters in die Rabenkopfstraße einbiegen sah, lief sie ihm entgegen. Noch immer fiel ihr das Atmen schwer. Sie keuchte und bedeutete Matte, gleich hier zu halten. Er parkte in der nächstgelegenen Einfahrt. Aus Angst, er würde sie unterbrechen, verhaspelte sie sich fast bei ihrem Bericht, kaum dass sie ins Auto eingestiegen war. »Im Keller … sind Kindermöbel … und es gibt eine Verbindungstür, und dort haben sie auch die Reggaemusik, die du abgestellt hast, als wir zum ersten Mal herkamen.«
»Langsam, ich versteh gar nichts. Abgestellte Musik und Kindermöbel? Hier, trink erst mal, hab ich extra für dich gekauft.« Er klappte das Handschuhfach auf und reichte ihr eine Flasche stilles Mineralwasser.
Sie trank fast die ganze Flasche leer und atmete auf. Endlich, der Knoten in ihrer Brust schien sich aufzulösen. »Ich denke, dass es Floras Sachen sind, die Richard in einem Raum im Keller aufgebaut hat, wahrscheinlich hat er seine Nichte da unten gefangen gehalten. Wer weiß, wo er sie jetzt hingebracht hat. Und hier ist die Diagnose seiner Frau, sie war mal seine Patientin. Und dann hat er Flora therapiert oder
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