Die Verstummten: Thriller (German Edition)
möglich bei Flora, auch wenn sie sie nicht so bedrängen wollte wie ihr Onkel.
»Jetzt wäre ein Chai recht.« Matte lächelte Richard an. »Zur Feier des Tages. Wie ich Sie einschätze, sind Sie ein Teekenner.«
Carina glaubte sich verhört zu haben. Tee? Jetzt?
Richard war anzusehen, dass er sie keine Sekunde mit Flora allein lassen wollte. Widerwillig erhob er sich.
Sobald er in der Küche war und der Wasserhahn lief, flüsterte Matte: »Flora lebt und ist nicht verletzt. Gib mir ein paar Minuten, dann fahren wir ins Krankenhaus, ja?«
Carina antwortete nicht, beugte sich über das Mädchen und berührte es sanft am Arm. »Hast du Schmerzen? Wir helfen dir gleich, wir gehen nicht ohne dich weg, versprochen.«
Flora zuckte unter der Decke und kniff die Augen nur noch fester zusammen.
Mit einem Tablett, darauf eine Teekanne, Tassen, Löffel und eine Zuckerdose, kehrte Richard zurück.
»Mmh, das riecht gut. Vanille Chai?« Matte schnupperte übertrieben.
Wie konnte er jetzt nur über Teesorten reden?
»Der muss noch drei Minuten ziehen.« Richard rutschte näher an seine Nichte heran, legte den Arm um das Coucheck. Flora drückte das Gesicht in die Decke und zog die Beine noch weiter an den Körper. »Ich kümmere mich um sie, ich kenne mich mit Kinderseelen aus.« Er wandte sich an Matte, hoffte anscheinend von dort ein wohlwollendes Nicken zu erhalten. Doch Mattes Miene war keine Reaktion zu entnehmen. Er hatte den neutralen, gleichmütigen Blick aufgesetzt, wie ihn nur ihr Haschpapi beherrschte. Plötzlich ahnte Carina, was er vorhatte … aber das konnte er doch auch noch später im Präsidium machen. Sie wollte das Mädchen hier heraushaben, so schnell wie möglich. Wo war sie bloß drei Tage lang gewesen? Allein im Keller, und keiner, nicht mal ihr Onkel, sollte es gemerkt haben? Er hatte ihr das Zimmer im Heizungskeller eingerichtet, und die Beweise dafür würden sich finden!
»Sie praktizieren aber seit Jahren nicht mehr. Ich habe mit einem Ihrer Kollegen telefoniert.« Matte hob den Deckel der Teekanne und wedelte sich den Vanilleduft zu. Log er, oder hatte er wirklich mit jemandem telefoniert, der Richard als Psychotherapeuten kannte?
Richard schwieg, starrte sie abwechselnd an. Vielleicht hoffte er, wenn er sie nur durchdringend genug fixierte, würden sie endlich abhauen.
Das leise Keuchen des Mädchens war zu hören. Kurze, schnelle Atemzüge, als presste sie die Luft regelrecht heraus. Carina musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Was, wenn sie innere Verletzungen hatte, was, wenn sie … Doch Spekulationen waren sinnlos. Das alles ließ sich klären, wenn das Kind erst hier raus war.
»Tagaus, tagein diese Leidensgeschichten, ich kann Sie verstehen.« Matte lehnte sich zurück.
»Nein. Sie verstehen mich nicht, keiner versteht mich«, zischte Richard. »Und ich sage das nicht, um Mitleid zu erregen. Es ist eine Tatsache. Keiner versteht den anderen, Psychologie ist eine Lüge. Traumata, echte Tragödien sind selten. Das meiste ist harmloses Geplänkel. Jammereien, Selbstmitleid, künstlich geschaffene Probleme von Leuten, die sich langweilen oder bedauert werden wollen. Das war mein täglich Brot. Jetzt versuche ich das alles als Kabarettist zu verarbeiten. Nur auf der Bühne kann ich jeden aufs Korn nehmen, auch meine ehemaligen Klienten.« Er griff Flora ins Haar. Das Mädchen zuckte weg, wimmerte.
»Klienten?« Matte schien Floras Leid zu ignorieren.
»Ja, ich war der Anwalt ihrer Seelen. Aber die wussten das überhaupt nicht zu schätzen! Manche haben mich belagert, mir aufgelauert. Eine von diesen Weibern hat sogar versucht, sich mir anzubieten, wieder und wieder, und ihr Exliebhaber hat mich bedroht. Ich habe sie angezeigt.«
Carina unterdrückte ein Schnauben. Anzeigen, das schien so eine Art Sport von ihm zu sein.
»Aber Sie haben die Anzeige doch zurückgezogen.«
Wann hatte ihr Vater das überprüft? Carina staunte, sie hatte eigentlich gedacht, er hätte diesen Richard komplett aus den Ermittlungen gestrichen.
»Und wie ist es überhaupt ausgegangen? Hat sie aufgegeben?«
Richard nahm das Teesieb aus der Kanne und stellte es in eine Tasse. »So jemand gibt nicht auf.« Er sagte das so leise, dass es kaum zu verstehen war. »Ich habe die Klientin … geheiratet. Schließlich ist Anja eine gute Partie, sie hat Anteile an Toppfresh.«
Der Einwegtütenhersteller? Carina konnte kaum glauben, was sie da hörte. Er heiratete seine Stalkerin, um sie zu beschwichtigen
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