Die Verstummten: Thriller (German Edition)
sich das Video angesehen hatte – und genau diesen Film hatte sie gestern zerstört. Sie öffnete den Umschlag und überflog die wenigen Zeilen auf der Klappkarte. Die üblichen guten Wünsche für die Zukunft und dass ihre Träume in Erfüllung gehen sollten. Unterschrieben war das mit:
Deine Mama, die Dich nie vergessen wird.
Kein Wunder, dass ihr Matte so was vorenthielt. Sie halste ihm das Kind auf und wünschte alles Gute für die Zukunft, ha! Ob auf der Karte noch Fingerabdrücke zu finden waren? Diese Zeilen in einer fremden, gleichmäßigen Schrift, mit langen Serifen, als hätte die Schreiberin viel Jane Austen gelesen, brachten sie auch nicht weiter. Über ihre Mutter wusste sie genauso wenig wie vorher. Sie betrachtete die Zeichnung auf der Vorderseite. Zwölf mit Buntstiften gemalte Kerzen standen in einem Teller voller Buchstaben. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie auch kleine Zahlen darunter. Wollte Mutterunbekannt damit sagen, dass sie immer schön ihre Buchstabensuppe aufessen sollte, damit sie auch ohne sie groß und stark wurde? Wahrscheinlich bedeutete es überhaupt nichts. Sie schob die Geburtstagskarte wieder in den Umschlag und öffnete Doña Lupitas Brief. Sofort stieg ihr der Duft der Vanillefelder in Paplanta in die Nase. Lupita lud sie zu ihrer dritten, diesmal hoffentlich letzten Hochzeit ein. Sie betrieb einen Lebensmittelladen in Paplanta, der sich immer noch gegen die Supermarktketten behauptete. Sie hatten sich nach Carinas Autounfall kennengelernt, als Lupita sie von der Straße auflas und in ihrem Lieferwagen mitnahm. Beim Lesen ihrer Zeilen stiegen Carina Tränen in die Augen. In Mexiko war sie einfach nur »die Elster« gewesen, la urraca , wie sie von ihren Freunden nach dem Vogel, der die Seele der Toten ins Jenseits begleitete, genannt wurde. Das Familiengezerre in Deutschland war nur ab und zu durch Wandas Anrufe über den Ozean geschallt, und vor allem hatte sie damals ihre eigene Herkunft noch nicht infrage gestellt.
28.
Neumaising, Mai 1992
»Dann ist unsere Gruppe, so versteh ich das, mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Das letzte Treffen also, prost.« Calimero hob die Flasche.
Iris atmete auf. »Ich mach erst mal was zu essen.« Sie holte eine Dose samt Dosenöffner aus ihrem Rucksack, spülte einen der Töpfe aus Hofis altem Küchenbord aus und stellte die Ravioli auf den Eisenofen, den Salamander mit Holz befeuerte.
Als es dunkel wurde, schloss Felix von draußen die Fensterläden, der Ofen bullerte, und Schnaps und Bier machten die Runde. Iris trank wie immer keinen Alkohol, schlürfte lieber ihren Tee und kratzte die restlichen Teigtaschen aus der Tomatensoße. Eigentlich konnte sie die Abfindung nehmen und heute schon abhauen, überlegte sie, warum noch eine Nacht hier verbringen und abwarten, bis die Stimmung kippte? Noch schwelgten sie in Erinnerungen, jeder prahlte damit, was er in den letzten Jahren für die Bundesrepublik geleistet hatte. Krallinger wollte sich im Sommer das Feuermal behandeln lassen, aber von dreitausend Mark würde er gerade mal in der Schweizer Klinik vorsprechen können, wenn überhaupt.
Vor der Vorstellung, im Finstern allein zur Fahrstraße und weiter bis zum Bahnhof zu stapfen und auf irgendeinen Zug zu warten, grauste es sie etwas. Sie beschloss, diese Nacht noch zu bleiben und morgen zeitig aufzubrechen.
»Du hast als Einziger von uns den Kontaktmann getroffen.« Felix, der zwischen Tür und Wand hin und her tigerte, sprach zu Calimero. »Das Schließfach mit der Banknummer, das weißt du von ihm. Dann frag nach, was das soll, ob es vielleicht ein Versehen war, ein Missverständnis.«
»Der Junkie vom Frankfurter Hauptbahnhof?« Calimero lachte. »Der lebt vermutlich gar nicht mehr.« Er trank erneut aus der Schnapsflasche, wischte sich über den Mund. »Dass wir die Auftraggeber nicht erreichen, ist doch bewusst so ausgetüftelt worden.«
»A-aus die M-maus«, gab Krallinger unterm Kruzifix im Hergottswinkel von sich.
»Genau, du sssagses.« Calimero fing zu lallen an, griff Iris an den Busen, als bräuchte er irgendwo Halt. »Wir Staatsdiener haben uuunser Sssssoll erfülllllt und … « Sie schob seine Hand weg, legte sie ihm wieder um eine Flasche, aber die war leer, und er schob sie weg. Salamander hatte ihnen den Rücken zugekehrt, starrte in die Glut wie ein kleiner Junge ins Lagerfeuer und öffnete und schloss im Minutentakt das Ofentürchen.
»Ausrangierte Diener sind unnötige Mitwisser, das heißt für uns …
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