Die Verstummten: Thriller (German Edition)
krabbelte, als steckte sie in einem Ameisenhaufen fest. Sie knabberte an den Keksen, versuchte sich mit Essen abzulenken, obwohl sie nicht wirklich Hunger hatte. Bald war die Kekspackung leer. Mit dem Zeigefinger tunkte sie die Krümel vom Nachtkästchen. Es juckte weiter. Sie kratzte, rund um ihre Knöchel herum, ein bisschen nur und dann stärker, nestelte an dem kleinen Quadrat, durch das das Plastikband festgezurrt war, mit kleinen Zacken, die weder vorwärts noch rückwärts gingen. Widerhaken, hatte ihr Papa mal erklärt. Wider mit einfachem »i« hieß es, wenn etwas dagegen war. Und dieses Ding wehrte sich mit aller Macht dagegen, dass sie es aufbrachte. Außer sie schnitt es auf, dazu müsste sie aber zu ihrer Schere im Schreibtisch kommen. Doch der stand ein paar Meter weg, und wenn sie es mit Aufstehen versuchte, würden bestimmt die Juckwunden wieder aufbrechen. Das wollte sie aber nicht, jetzt, wo der Schmerz nur noch anklopfte, wie ein Wecker, der darauf lauerte, gleich wieder loszuschrillen. Außerdem war die Kruste fest mit dem Band verwachsen, wie sollte sie das jemals aus ihren Füßen herausbringen? Das Kribbeln war unerträglich, auch in ihrer Armbeuge juckte es. Eine Mücke? Sie lauschte, ob sie ein Summen hörte, und weil sie ihre Ohren so anstrengte, zuckte plötzlich ihr Fuß. Ein dünner Faden Blut sickerte neben dem Plastikband heraus, tropfte auf das Laken. Sie wimmerte ihr Spiegelbild an. Dann kletterte sie doch vom Bett und zog sich zum Schreibtisch, worin sie alles zum Basteln aufbewahrte. Die oberste Schublade war leer, auch die nächste und die dritte. Aber im Geheimfach unter der Platte, das ihr Papa eingebaut hatte, lagen noch die übrig gebliebenen Aquarellfarbnäpfe aus ihrem neuen Kasten, den sie letztes Weihnachten von der Gautingoma gekriegt hatte. Seither malte sie alles damit, alles, nur keine Ballons mehr.
Sie schleppte sich zum Schrank, aber auch der war ausgeräumt bis auf einen Schuh, einen weißen. Mamas Brautschuh. Unterm Bett fand sie ihren MP 3-Player, er musste vom Nachtkästchen gerutscht sein, als sie nach der Trinkflasche gegriffen hatte. Entweder hatten sie den nicht entdeckt, oder sie durfte ihn als Einziges behalten. Ihre Lieblingslieder würden sie hoffentlich ein bisschen trösten. Sie steckte sich die Stöpsel in die Ohren und drückte auf »Play«. Nicht ihre Kinderhits setzten ein, sondern eine Frauenstimme erzählte etwas. Wer war das und wie war diese Geschichte auf ihr Gerät gelangt? Aber die Stimme gefiel ihr. Leuchtend hellblau, wellte sie sich an den Rändern und verformte sich mal zu silbernen Tröpfchen, mal zu einer wolligen Kugel, mal zu einem Kreisel, der sich auf dem Wasser drehte. Sie klang wie eine dieser Ansagerinnen in der S-Bahn, die manchmal lustige Sachen erzählten und manchmal schimpften, wenn die Leute nicht schnell genug einstiegen. Zuerst verstand sie nicht, was die Frau sagte, hüllte sich nur in ihre Farbbilder ein. Fremde Namen mit einem merkwürdigen Klang. Sie drückte auf »Rew« und hörte es sich noch mal an.
31.
»Was sollte das?« Carina hatte kaum das Polizeigebäude betreten, da stürzte ihr Vater aus seinem Büro und überhäufte sie zwischen Kopierer und Kaffeeautomat mit seinen Vorwürfen.
»Was sollte was?« Sprach er von der Unordnung in seiner Wohnung, die sie angerichtet hatte, als sie die heiligen Schubladen nach ihrer Herkunft durchstöberte, weil er und Silvia nicht fähig waren, mit ihr zu reden? Oder wollte er hier tatsächlich vor allen Kollegen über private Dinge sprechen und bestellte sie deshalb am Sonntag her?
»Was hattest du schon wieder beim Mordhaus zu suchen?«
Natürlich, es ging um den Fall, was sonst. Sie drehte den Loos-Schlüssel in ihrer Hosentasche, den hatte sie ihm eigentlich geben wollen. Nach der Peinlichkeit mit der Waffe wollte sie nicht noch einmal irgendwas zurückhalten. Aber dass sie nicht nur beim Mordhaus, sondern auch drin gewesen war, würde sie ihm trotzdem nicht gleich auf die Nase binden, so wie er sie zusammenstauchte. Der Schlüssel glühte in ihrer Hand. Sollten Rechtsmedizin und Mordkommission nicht eigentlich besser zusammenarbeiten? Schließlich ging es beiden um die Aufklärung von Verbrechen, oder etwa nicht? Dafür war sie doch herbestellt worden. Ihr Vater stocherte mit seinem Stock auf dem Boden herum, zerkratzte das Laminat. Was sein Aussehen betraf, musste sie Frau Kirchleitner zustimmen. Seine Haare standen wie Flaum über den Ohren ab, und seine Augen
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