Die Verstummten: Thriller (German Edition)
stach es noch immer, obwohl sie längst wach war.
Ihr Bruder zog sie immer auf, weil sie die Wochentage nicht behalten konnte. Sie konnte sich einfach nicht merken, dass die Tage Namen hatten. Für sie unterschieden sie sich durch Farben. Als sie Sara fragte, welche Farbe der erste Tag der Woche bei ihr hatte, verstand die überhaupt nichts.
»Häh? Wie – Farbe? Montag ist Montag.« Sie hockten in Saras Zimmer unterm Dach und schmolzen Süßigkeiten auf Saras echtem Puppenherd.
»Bei mir ist der grau, wie so ein Kästchen, nein, eher wie ein Stück Stoff, an den Rändern ausgefranst und dunkel, da schimmert er sogar bläulich.«
»Wer schimmert?« Sara musterte sie, als würde sie eine fremde Sprache sprechen.
»Na, der Anfang der Woche. Danach kommt der grüne Tag und in der Mitte der rote.«
»Aha.« Sara glotzte sie an.
Sie horchte in sich hinein und überlegte, wie sie ihrer Freundin besser erklären konnte, was sie da sah. »Es fühlt sich einfach so an, den ganzen Tag lang oder wenn ich an diesen Tag denke, verstehst du?«
Sara schwieg, schlürfte mit einem Strohhalm den restlichen Papp aus dem Topf und verzog das Gesicht. »Igitt, der Champagner ist leider nichts geworden.«
»Welche Farbe hat denn dein Lieblingstag?« Sie probierte es noch mal. »Meiner ist helllila.«
Saras Lieblingstag war der Samstag, weil sie da keine Schule hatten und lange aufbleiben durften, aber eine Farbe fiel ihr nicht dazu ein.
Seither hatte sie keinen mehr nach seinen Farben gefragt. Sie konzentrierte sich auf Sara und schickte ihr einen regenbogenfarbenen Gruß. Und auch an Alissa aus ihrer Klasse, die ihren Arm nicht richtig bewegen konnte, von Geburt an und trotzdem Geige spielte, langsame Stücke, die traurig und wunderschön klangen. Und an Tim, der sie geküsst hatte, so als sollte sie im Leben wenigstens einmal geküsst werden. Sie stellte sich vor, alle würden sich um ihr Bett versammeln und ihr beim Sterben zusehen. Sie hielt den Atem an, wartete darauf, dass sie sich auflöste und der Schmerz verschwand. Als sie wieder Luft holte, war sie immer noch da, in dem, was ihr Zimmer sein sollte, und kein bisschen aufgelöst. Ihre Füße hämmerten weiter von innen heraus, wehrten sich gegen die Plastikschnur, wenn sie sich bewegte.
Sie versuchte zu schlafen.
Schlafen macht gesund, sagte Oma immer. Vielleicht konnte sie zuerst schlafen, dann träumen und nie mehr aufwachen. Außer ihre Eltern weckten sie gleich, das wäre das Allerbeste.
27.
Carina schob das Fahrrad in den Hausflur und spähte zu ihrem Briefkasten. Es steckte tatsächlich Post darin. Oben in ihrer Wohnung öffnete sie das Zwiebelturmfenster, warf einen Blick auf den glutroten Horizont über der Stadt und sog die laue Nachtluft ein. Dann hockte sie sich auf ihr einziges Möbelstück, ein ausrangiertes Sofa von Wanda, über dessen abgewetzte Stellen Carina die buntgestreifte mexikanische Decke drapiert hatte. Sie holte den gelben Umschlag aus ihrer Tasche, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Da lag sie, ihre Vergangenheit, einmal die mexikanische, die sich durch Doña Lupitas Luftpostbrief zurückmeldete, und dieser Brief ihrer richtigen Mutter. Sie dachte an Flora Loos, die eine Bärenkarte von ihrer Freundin erhalten hatte. Warum war die bloß in der Sockelleiste dieses leeren Zimmers gelandet? Und warum hatte niemand das Kind erwähnt, ganz so, als existierte es nicht? Vielleicht wurde sie bei ihrer Oma einfach nur von allem abgeschirmt, es war schlimm genug, den Tod der Eltern verkraften zu müssen. Dass keiner Carina gegenüber von ihr gesprochen hatte, war klar, schließlich war sie als Rechtsmedizinerin allein für die Obduktionen verantwortlich, nicht für die Sorgen der Überlebenden. Sie holte sich ein Glas eiskaltes Leitungswasser, trank und betrachtete ihre Briefe.
Welchen sollte sie zuerst öffnen? Ob Carina den Brief damals flüchtig zu Gesicht bekommen oder ob ihr Vater ihn gleich beschlagnahmt hatte, wusste sie nicht mehr. An die Geburtstagsfeier erinnerte sie sich noch sehr genau, weil ihre Freundinnen und sie einen Videofilm gedreht hatten. Carina 12 nannten sie den Fernsehsender, für den sie an diesem Nachmittag Werbespots und eine Nachrichtensendung produzierten. Wanda imitierte eine Sängerin mit blauen Haaren. An das reale Vorbild erinnerte sich Carina nicht mehr. Ihr Vater spielte den Moderator von Aktenzeichen XY und wurde dann zu einem wirklichen Einsatz gerufen, wie üblich, das wusste sie noch. Es war Jahre her, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher