Die Verstummten: Thriller (German Edition)
« Er musste nicht weitersprechen, jeder wusste, was das bedeutete.
»Gute Nacht.« Iris löste sich aus Calimeros Umklammerung.
»Bleib doch noch ’n bisschen.« Calimero wollte sie nicht gehen lassen.
»Ich schlaf sonst hier noch ein.« Sie strich ihm übers Haar, wollte ihn auf die Wange küssen, doch er drehte den Kopf und saugte sich an ihren Lippen fest. Es tat weh, augenblicklich schmeckte sie Blut. Sie riss sich von ihm los und stürmte nach oben.
»Eine Frau sprengt die Gruppe«, hörte sie Salamander murmeln. Was sollte das jetzt? Sie mussten jederzeit die Disziplin wahren, und nur weil sie als Geheimagenten abserviert worden waren, wurde sie plötzlich dafür verantwortlich gemacht? Calimero als Gruppenführer mit Verantwortung für die Nation ließ sich volllaufen und glaubte, er könne mit ihr machen, was er wollte. Morgen, wenn er wieder nüchtern war, würde er sich entschuldigen wollen, beteuern, wie leid es ihm tat. Aber da würde sie bereits weg sein; sobald es hell war, würde sie aufbrechen.
Sie drückte auf den Lichtschalter in ihrer Kammer, um in dem schwarzfleckigen Drehspiegel am altmodischen Waschtisch hinter der Tür zu überprüfen, ob Calimero sie in die Lippe gebissen hatte. Die Glühbirne flackerte kurz auf, knisterte und erlosch. Mist, an Wechselbirnen hatte bestimmt niemand gedacht. Dann würde sie eben eine aus dem Treppenaufgang nehmen. Als sie die Tür öffnete, stand Calimero davor. Er drängte sie ins dunkle Zimmer zurück und warf sie aufs Bett.
»He, was soll das?« Sie fasste es noch als Scherz auf, schlug dann mit dem Kopf an einen Balken und japste. Blitze schossen ihr durch den Schädel, der Schmerz raubte ihr für einen Moment die Sinne.
Calimero griff ihr in die Haare und riss ihr den Kopf zurück. Sie wehrte sich, trat, strampelte, kratzte. Endlich hörte sie die anderen auf der Treppe. Salamanders Gestalt füllte den Türrahmen aus.
»Los, sag deinem Freund, dass er aufhören soll«, schrie sie, doch Salamander reagierte nicht.
»Was willst du mit der?« Felix zwängte sich an Salamander vorbei. »Die ist doch gar keine richtige Frau.«
»Meinst du? Dann schauen wir mal nach.« Krallinger war auch dabei. Viele Hände packten sie, hielten ihr Arme und Beine, zerrissen ihr Shirt und zerrten ihr Hose und Unterhose herunter. Inmitten des Chaos stachen Gedanken durch ihren Kopf: Das passierte jetzt nicht wirklich, das waren nicht die, die sie für Freunde gehalten hatte, denen sie vertraute, so wie sie ihr, die jetzt keuchten, fummelten, stießen. Wer als Erstes in sie eindrang, wie oft und wie lange, wusste sie nicht. Nach einer Weile hatte sie das Gefühl, immer mehr zu zerreißen, nur noch Schmerz zu sein, und hoffte vergeblich, endlich das Bewusstsein zu verlieren. Sie schlugen sie, zwickten ihr in die Brüste, verdrehten ihr die Beine.
Vier Mal Dunkelheit, vier Mal Schmerz, vier Mal Unendlichkeit.
Sonntag
Achtundvierzig Stunden nach dem Ursprung
Mir fehlen die Worte
ich hab die Worte nicht
dir zu sagen was ich fühl’
ich bin ohne Worte
ich finde die Worte nicht
ich hab keine Worte für dich
Tim Bendzko
29.
Der Tod eilt als Schaffner ohne Fahrzeug durchs Land. Von Weitem blitzt das rote Innenfutter seines Flattermantels am Horizont auf, wenn er auf großen Schuhen heranspurtet. Aus einer alten Tasche, die einer Hebammentasche gleicht, nur dass sie kein Geburtsbesteck enthält, zieht er ein Ticket, reicht es dem Sterbenden und entwertet es mit der Lochzange, die an seinem Gürtel hängt. Dann grinst er unter der Krempe seines Schlapphutes hervor, wie ein Schaffner, der eine Kinderfahrkarte verteilt; sie ist eigentlich nutzlos, verleiht aber der Reise mehr Spaß.
Den Sonntagvormittag verbrachte Carina im Institut mit »Oskar«; so hatte sie den Schädel getauft, weil sie die wuchtigen Knochenformen an ihren Opa Oskar erinnerten. Als Kind stellte sie sich den Tod als Schaffner vor, der an die Sterbenden Fahrkarten ausgab. Er sah wie Oskar Kyreleis aus. Mattes Vater hatte bei der Deutschen Bahn gearbeitet und war gestorben, als Carina in die Schule kam. Sie holte den Schädel aus dem Apothekerschrank und steckte ihn auf die Stele, die Nusser ihr für die Rekonstruktionen zusammengeschraubt hatte. Da sie auf den Originalschädeln rekonstruierte und nach der Fertigstellung alles Plastilin wieder entfernte, konnte sie das Gestell aus einem Stück Besenstiel auf einem Brett mehrmals verwenden. Wenn sie tat, was sie liebte, und auch diesem unbekannten
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