Die Versuchung
Händen das Zimmer, als ob er Folterqualen erleide. Es war ein Glück, dass der Rheumatismus den alten Herrn daran hinderte, ihm nachzugehen, denn sonst hätte er gesehen, wie er eiligen Schrittes den Korridor durchquerte und völlig unbeschwert die Stufen zum Garten hinunter sprang. Der junge Zedwitz war nicht mehr dort, dafür standen seine Mutter und seine Schwester so dicht hinter der Tür, dass Hamilton sie in seinem Schwung beinahe umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich und fragte nach Graf Max.
„Er war eben noch hier“, erwiderte die Gräfin, „aber er ist fortgegangen, um nach Jemandem oder Etwas zu sehen, ich habe nicht ganz verstanden, was er gesagt hat.“
„Es ist unfreundlich von Max, dass er nicht mit uns geht“, bemerkte seine Schwester leicht gereizt, „er weiß doch, wie sehr ich mich vor den Kühen und den Hunden fürchte.“
Hamilton hatte den Eindruck, dass sie ihn bei diesen Worten anblickte, als erwarte sie, dass er anbiete, ihren Bruder als Beschützer zu vertreten. Er beschloss, diesen Blick einfach zu ignorieren, aber schon sagte die Gräfin: „Oh Mr. Hamilton, wenn Sie nichts anderes vorhaben, würden Sie uns vielleicht auf unserem Spaziergang begleiten? Meine Tochter ist so ängstlich, dass sie freiwillig nie weiter als hundert Meter geht, wenn sie keinen Begleiter hat, der die Tiere verscheucht.“
Hamilton fühlte, dass ihm das Glück an diesem Tag nicht hold war. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Der Gedanke, dass der junge Zedwitz vielleicht in diesem Augenblick mit den beiden Schwestern spazieren ging, versetzte ihn nicht gerade in Hochstimmung, und so war er ziemlich schlecht gelaunt, als er sich den beiden Damen wohl oder übel anschloss. Seine Stimmung besserte sich allerdings schnell wieder, denn seine Begleiterinnen waren ausgesprochen liebenswürdig und unterhaltsam. Die Gräfin wohnte auf einem ihrer Güter in der Nähe von München, hatte aber die letzten beiden Winter ihrer Tochter zuliebe in der Stadt verbracht. Der Graf schätzte das Stadtleben allerdings nicht sonderlich, und da ihre Tochter nun verlobt war, würden sie in Zukunft nur noch auf dem Land leben.
„Nun, Ihrem Sohn scheint es in München recht gut zu gefallen, wie er mir erzählt hat. Er hat mir jedenfalls dazu geraten, den kommenden Winter dort zu verbringen.“
„Und was sagen Ihre Eltern zu diesen Plänen?“
„Sie lassen mir die freie Wahl, ob ich den Winter in Wien, Berlin, Dresden oder München verbringe.“
Das Gespräch kam auf ein anderes Thema und Hamilton fühlte sich von seinen Begleiterinnen auf dem Spaziergang bestens unterhalten. Es tat ihm beinahe leid, als sie wieder am Kloster angelangt waren und es bereits Zeit war, das Abendessen einzunehmen.
„Wo sind meine Töchter? Haben Sie sie vielleicht unterwegs getroffen?“, fragte Madame Rosenberg, die bereits am Tisch saß.
Niemand hatte sie gesehen.
„Sie sind den ganzen Nachmittag über bei mir gewesen und erst vor einer halben Stunde nach der Kirche auf der anderen Seite des Sees gegangen. Vielleicht wird Herr Hamilton so freundlich sein, sie zum Abendessen zu rufen?“
„Lassen Sie mich mitgehen“, sagte der junge Zedwitz und sprang von seinem Stuhl auf.
„Ich danke Ihnen, aber ich werde es auch ohne Begleitung schaffen“, sagte Hamilton und fügte mit ironischem Lächeln hinzu: „Ich weiß, dass Sie den ganzen Nachmittag um den See herum gewandert sind, Sie werden sicher ziemlich müde sein.“
Zedwitz lachte, aber so leicht ließ er sich nicht abschütteln. Er folgte Hamilton auf dem Fuß.
„Sie sind heute lange auf Ihren Posten gewesen, Zedwitz, vom Mittagessen bis jetzt.“
„Wie hat es Ihnen gefallen, als Sie eingefangen wurden, um die Kühe aus dem Weg zu treiben? Ich habe gesehen, wie Sie abgeführt wurden.“
„Ach, ehrlich gesagt habe ich mich recht gut amüsiert. Ihre Mutter ist wirklich sehr liebenswürdig und Ihre Schwester steht ihr in nichts nach.“
„Meine Schwester ist in der Tat eine zauberhafte kleine Person und es ist wirklich schade, dass sie schon so bald heiraten wird. Ohne sie wird es bei uns zu Hause entsetzlich langweilig sein. Über kurz oder lang werde ich mich wohl auch nach einer passenden Frau umsehen müssen.“
„Ihre Mutter sagte mir, sie erwartet, dass Sie eine sehr gute Partie machen werden.“
„Ihr Optimismus in allen Ehren – aber so wahrscheinlich ist das nicht.“
„Aber sie sagte mir, dass Sie schon so gut wie verlobt
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