Die Versuchung
Tag sonderbarer und er nahm sich vor, Sophie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auszufragen.
Es war jedoch nahezu unmöglich, Sophie allein anzutreffen, weil Isabelle ständig an ihrer Seite war, und in ihrer Gegenwart würde er überhaupt nichts in Erfahrung bringen, soviel stand fest. Immerhin gelang es Hamilton, ein paar belanglose Sätze mit Sophie zu wechseln, während ihre Schwester gerade abgelenkt war. Er fragte sie, ob sie sich in Seeon langweile, ob sie etwa München vermisse und dann mit leiser Stimme, warum sie so traurig aussehe. Ihre einzige Antwort war ein vorwurfsvoller Blick, und schon zog Isabelle sie wieder mit sich fort. Er zerbrach sich den Kopf und beschloss, seine Beobachtungen auf die Stiefmutter der Mädchen auszudehnen, deren Benehmen er sich ebenfalls nicht recht erklären konnte. Sie war sehr nachsichtig gegenüber Sophie, während Isabelle ihr scheinbar überhaupt nichts recht machen konnte.
Eines Tages kam Sophie mit vom Weinen fast zugeschwollenen Augenlidern zum Mittagessen hinunter, und ihre Schwester war so blass, dass Hamilton befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden. Wenig später standen sie auf, ohne wirklich etwas gegessen zu haben, und verließen wortlos den Raum. Madame Rosenberg, die neben Major Stutzenbacher saß, sprang auf und folgte ihnen. Nach wenigen Minuten kehrte sie mit Isabelle im Schlepptau zurück, deutete zornig auf ihren Platz am Tisch und befahl ihr, sich hinzusetzen und ihre Schwester in Ruhe zu lassen. Sie gehorchte, machte jedoch keinen Versuch, zu essen.
Es war ein sonniger Nachmittag und Hamilton brannte vor Neugier zu erfahren, was all das wohl zu bedeuten hatte. Zu seinem Missvergnügen lief er jedoch direkt dem alten Graf Zedwitz in die Arme, der ihn auf sein Zimmer bat, damit er ihm seine Dissertation über die Wasserkur vorstellen könne, als Belohnung oder vielmehr als Strafe für seinen vormittäglichen Besuch neulich. Der Graf begann sogleich, das Manuskript laut vorzulesen, wobei er von Zeit zu Zeit inne hielt, um Korrekturen vorzunehmen, während Hamilton sehnsüchtig aus dem offenen Fenster nach draußen blickte, und seine Gedanken zu Sophie und ihrer Schwester wandern ließ. Wahrscheinlich unternahmen sie wieder einmal einen ausgiebigen Spaziergang und würden erst zum Abendessen wieder zurückkehren. Der junge Zedwitz hatte sich ihnen vermutlich angeschlossen, da er offenbar ein Auge auf Isabelle geworfen hatte. Er seinerseits fand ihre Schwester eindeutig sympathischer, die er vielleicht doch noch zu einem Rendezvous im Kreuzgang überreden könnte. Fünf Minuten – nur fünf Minuten ohne ihre Schwester! Er formulierte in Gedanken bereits die passenden Worte, während der Graf im Hintergrund weiter ahnungslos sein Manuskript vortrug. Als er Stimmen aus dem Garten hörte, verlor Hamilton endgültig die Geduld. Er sprang auf, presste die Hände an die Schläfen und behauptete, so heftige Kopfschmerzen zu haben, dass er dem Vortrag leider nicht länger folgen könne.
„Kopfschmerzen! Mein lieber Herr, wenn Sie mich nicht für gefühllos halten würden, dann würde ich sagen, dass ich mich freue, das zu hören. Sie können jetzt nämlich am eigenen Leib erfahren, wie wirksam eine Behandlung mit kaltem Wasser ist. Kopfschmerzen, egal ob sie nervös oder rheumatisch sind, können dadurch geheilt werden, dass man die Füße in einen Zuber mit kaltem Wasser steckt und den Kopf mit nassen Tüchern umwickelt.“
„Ich glaube, dass ein Spaziergang an frischer Luft mich in kurzer Zeit wieder kurieren wird, und da ich Ihren Sohn im Garten höre, so werde ich ihn vielleicht überreden, mir Gesellschaft zu leisten.“
„Wenn Sie das Fußbad nicht lieben, so versuchen Sie, ein wenig in Wassertüchern zu schwitzen – es wird Ihnen helfen, glauben Sie mir.“
„Mein lieber Graf, meine Kopfschmerzen sind von eigentümlicher Art. Ich bin davon häufiger betroffen und weiß aus Erfahrung, dass es in diesem Fall nichts Besseres gibt als Bewegung an frischer Luft.“
„Aber ich versichere Ihnen, dass kaltes Wasser dieselbe Wirkung haben wird. Und ich möchte Ihnen immer noch, nur um Sie zu überzeugen, das Schwitzen empfehlen.“
„Entschuldigen Sie mich bitte für heute“, sagte Hamilton, „wenn Sie morgen die Güte haben wollen, mir Ihr Manuskript vorzulesen, dann werde ich sicher in der Lage sein, Ihre Arbeit gebührend zu würdigen.“
Während der Graf seine Lesebrille abnahm, verließ Hamilton mit an die Schläfen gepressten
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