Die Versuchung
Kindermädchen mit Gustel und Peppi sowie zwei mit Proviantkörben bepackte Wanderführer waren weit hinter ihnen. Sophie bewunderte die Landschaft, die sie durchwanderten, in schwärmerischen Worten und erklärte, sie würde liebend gerne in einem der hübschen kleinen Bauernhäuser wohnen, die sie unten im Tal sahen. Hamilton stimmte ihr zu, dass das Leben darin sicher einfach, aber durchaus glücklich wäre. Sophie seufzte und murmelte, dass er sie verstehe, was sie von Major Stutzenbacher nicht erwarten könne. Er erwiderte, dass sie ihn ja noch gar nicht gut genug kenne, um das zu wissen, aber er könne ihre Bedenken angesichts des Altersunterschieds natürlich verstehen. Um sie aufzuheitern, machte er ihr ein paar Komplimente, wie gut ihr das schlichte Baumwollkleid stehe und die neuen Ohrringe und ließ sich dazu hinreißen, ihr zu sagen, dass sie heute einfach hinreißend aussehe und jeder Mann sich sofort in sie verlieben könnte. Kaum hatte er den letzten Satz ausgesprochen, bereute er ihn auch schon, denn ihm fiel ein, dass Sophie das als eine Art schüchterne Liebeserklärung verstehen könnte. So, als habe sie auf ein Stichwort gewartet, sprudelte es auch schon aus ihr heraus, dass sie sich gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft in ihn verliebt habe und bereit sei, dem Major einen Korb zu geben, wenn er es nur wolle.
Hamilton war so überrumpelt, dass er einige Augenblicke lang unfähig war, irgendeinen sinnvollen Satz zu formulieren. Angestrengt versuchte er, die Gedanken zu sortieren, die wild durch seinen Kopf wirbelten. Schließlich hatte er sich so weit gefangen, dass er ihr mit erzwungener Ruhe sagen konnte, dass er gerade erst vierundzwanzig und finanziell völlig von seinem Vater abhängig sei, der sicher nicht erlauben werde, dass er sich schon so früh binde, ehe er erste berufliche Erfolge vorzuweisen habe. Sophie sah ihn erschrocken an und brach dann in Tränen aus. Hamilton verfluchte sich selbst in diesem Augenblick. Er konnte gut verstehen, dass Sophie sich seine Entschuldigungen nicht anhören wollte. Seine leichtsinnigen Worte waren in der Tat unverzeihlich. Aber bis zu diesem Moment hatte er nicht geglaubt, dass sie für ihn mehr empfinden könnte als freundschaftliche Zuneigung oder eine kleine Schwärmerei, die bei jungen Mädchen oft ebenso schnell wieder verschwand, wie sie entstanden war. Jedenfalls behauptete das sein Bruder John und der sollte es wissen.
Sie gingen lange schweigend nebeneinander her, aber Sophie brachte es nicht fertig, seine wiederholten Entschuldigungen völlig zu ignorieren; als ihr Ziel in Sichtweite kam, versprach sie ihm außerdem, mit niemandem über ihr Geständnis und seine Antwort zu sprechen. Hamilton dachte mit einigem Unbehagen daran, dass er demnächst bei der Familie Rosenberg wohnen würde, wo er Sophie regelmäßig sehen und sie allein durch seinen Anblick sicher genug quälen würde, bis sie schließlich verheiratet war. Er nahm sich fest vor, in Zukunft weniger zu reden, jedenfalls in Gegenwart von unverheirateten Frauen.
„Kommen Sie, Hamilton, wir wollen uns den Sonnenuntergang ansehen“, rief Zedwitz und zog ihn am Arm. Er schien prächtiger Laune zu sein und redete wie ein Wasserfall ohne zu bemerken, dass sein Begleiter ihm weder antwortete noch seinen Erzählungen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als die Vesperglocke geläutet wurde, schlossen sich ihnen Isabelle und Sophie an. In Seeon läutete die Glocke gewöhnlich, wenn sie beim Abendessen saßen; die Gespräche und die Geräusche von Messern und Gabeln verstummten dann augenblicklich, und die Stille hielt an, bis der letzte Ton der Glocke verklungen war. Dann wünschten sich die Tischnachbarn einen guten Abend und widmete sich wieder der unterbrochenen Mahlzeit. An diesem Abend erklangen die Glocken der Dorfkirchen unten im Tal und eine Stimmung feierlicher Andacht entstand. Zedwitz nahm seinen Hut vom Kopf, Sophie faltete die Hände und bewegte die Lippen in stummem Gebet, während Isabelles Blicke sehnsüchtig in den Abendhimmel schweiften. Ein Bote der Sennhütte wartete schweigend, bis die letzten Töne verklungen waren, ehe er sie zum Abendessen rief. Mittlerweile war auch Stutzenbacher in der Hütte angekommen und trocknete sich den Schweiß mit einem roten Taschentuch.
Die allgemeine Müdigkeit verlängerte die Mahlzeit, und die Dämmerung hatte sich beinahe schon in Nacht verwandelt, als sie sich vom Tisch erhoben. Es war die Idee des jungen Grafen, zum Abschluss des
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