Die Versuchung
Tages oberhalb der Hütte ein Feuer anzuzünden, und schon fing man an, Holz zu sammeln. Das Feuer brannte hell und warf ein gespenstisches Licht auf die versammelte Reisegesellschaft. Hamilton saß ein wenig abseits auf einem Baumstumpf und beteiligte sich nicht an den Gesprächen. Das Ganze kam ihm vor wie eine Szene aus einem Theaterstück. Er war entschlossen, die schöne Isabelle zur Heldin zu machen. Aber wer war der Held? Zedwitz vielleicht, der sich anschickte, sie zu erobern? Nein, denn er würde sie nicht bekommen, das fühlte er. Aber wer käme sonst in Frage? In seiner Fantasie kam auf einmal ihm selbst eine Hauptrolle zu; in ihrem Hause in München würde er den unnahbaren kühlen Engländer spielen, in den sich die schöne Isabelle allmählich heftig verlieben würde, gerade weil er keinerlei Interesse an ihr zeigte …
Inzwischen war es kühl geworden, die Knaben waren eingeschlafen, und Madame Rosenberg, das Kindermädchen und ihre Töchter zogen sich in die Hütte zurück. Der Major wollte noch seine Pfeife zu Ende rauchen, und die beiden jungen Männer legten Holz nach. Sie sprachen kein Wort, solange Stutzenbacher neben ihnen saß. Dann zündete sich Zedwitz an der glimmenden Glut eine Zigarre an und fragte: „Wissen Sie schon, wo Sie heute Nacht schlafen werden?“
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Hamilton, „aber ich habe keine besonderen Erwartungen.“
„Wir werden alle zusammen auf dem Heuboden schlafen.“
„Und die Damen?“
„Sie werden auch dort schlafen.“
„Unsinn, Zedwitz, Sie scherzen!“
Er lachte. „Keineswegs, es ist mein völliger Ernst. Es gibt im ganzen Haus kein Bett, das diesen Namen verdienen würde. Wir werden alle zusammen auf dem Heuboden schlafen. Wollen wir gehen?“
Das Haus lag völlig im Dunkeln, nur das Feuer des offenen Herdes sorgte für etwas Licht. Daneben saß einer der Wanderführer mit einem Bauernmädchen, offensichtlich in einem sehr vertrauten Gespräch. Zedwitz und Hamilton fanden den Weg zum Heuboden und erklommen im Finstern vorsichtig die Leiter, die nach oben führte. Überall lag Heu, und da durch ein Giebelfenster ein wenig Licht fiel, konnten sie mehrere Gestalten auf dem Boden erkennen, wobei nicht sicher war, ob sie bereits schliefen. Nur bei Stutzenbacher war die Antwort offensichtlich, denn er lag mit offenem Mund auf dem Rücken und schnarchte. Vorsichtig tappten sie hinüber auf die Seite des Heubodens, wo Madame Rosenberg und die Kinder lagen. Ein unterdrücktes Lachen und ein zorniges „Pst!“ verrieten ihnen, dass auch die beiden Schwestern hier ihr Lager hatten. Kaum hatten sie sich ihren Platz gesucht, als sie bemerkten, dass in ihrer Nachbarschaft ein kleiner Grenzwall aus Heu errichtet wurde. Für Hamilton war es die erste Nacht im Heu und flüsternd beklagte er sich bei Zedwitz, dass das Heu zu warm sei und pikse und dass er so wohl kaum schlafen könne, aber der Graf hatte für diese Animositäten wenig Verständnis, er murmelte etwas Unverständliches, rollte sich zusammen und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Hamilton blieb nichts anderes übrig, als sich mit seiner Lage abzufinden, und da ihm keine Position bequem erschien, bewegte er sich schließlich einfach gar nicht mehr.
Eine Weile war alles still, dann flüsterte Sophie vernehmlich: „Schnarcht er nicht entsetzlich, Isabelle? Und gib zu, dass er heute Abend sehr gewöhnlich aussah, als er in kurzen Hemdsärmeln dasaß, wie ein Schuhmacher oder ein Schneider.“
„Ja, er sah etwas merkwürdig aus. Aber zuhause ist er sicher ganz anders. Und was das Schnarchen angeht – du weißt, dass selbst der Papa manchmal schnarcht.“
„Ich weiß, du bist fest entschlossen, gut über ihn zu reden, und ich bedauere nur, dass du seine guten Eigenschaften nicht früher entdeckt hast, das würde mir eine Menge Kummer erspart haben.“
Nach diesen Worten trat eine längere Pause ein, und Sophie fragte schließlich schüchtern: „Isabelle, bist du böse?“
„Nein, ich bin es nur leid, immer wieder das Gleiche zu hören.“
„Verzeih, ich verspreche dir, dass du es zum letzten Mal gehört hast. Aber jetzt gib mir bitte eine Antwort auf eine ganz einfache Frage. Du kannst nicht länger behaupten, blind für die Aufmerksamkeiten von Graf Zedwitz zu sein. Welche Antwort willst du ihm ...“
Hamilton hätte die Antwort auf diese Frage zu gern gehört, aber ausgerechnet in diesem Moment musste er husten. Es war kein Laut mehr zu hören, so sehr er
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