Die Versuchung
„und in unserem Haus ist keine Menschenseele, denn Walburga hat heute Ausgang. Ich muss mich um meine drei Buben kümmern – es hilft nichts, Isabelle, du musst mit in den Wagen steigen und gleich nach Doktor Berger schicken.“
„Darf ich nicht auch mitfahren?“, fragte Sophie schüchtern.
„Du wärst nur im Weg. Hier, Isabelle, nimm den Hausschlüssel und mach, dass du fortkommst.“
Man hievte Hamilton in die Kutsche und versuchte, ihn so auf einen Sitz zu legen, dass er während der Fahrt nicht herunter rutschte. Er war nur halb bei Bewusstsein und redete halblaut auf Englisch vor sich hin. Isabelle errötete und schien sehr verlegen zu sein, was Zedwitz auf sich bezog, weil er nicht ahnte, dass sie einiges von dem verstand, was Hamilton von sich gab. Es waren Dinge, die er ihr im Wachzustand nie gesagt hätte.
„Ich glaube, es ist am besten, wenn wir ein Taschentuch um die Wunde an seiner Schläfe binden, sie hat wieder angefangen zu bluten“, sagte Isabelle schließlich.
„Sie haben recht“, sagte Zedwitz. „Er scheint weder Sie noch mich zu kennen und hält Sie offenbar für eine andere Person. Wer ist diese Helene, von der er jetzt spricht?“
„Wahrscheinlich jemand aus England.“
„Der arme Kerl! Wahrscheinlich glaubt er, jetzt zuhause zu sein. Ich hoffe, dass er jetzt müde wird, dann wird er ruhiger.“
„Glauben Sie, dass es ernst ist?“, fragte Isabelle ruhig.
„Ich hoffe es nicht, aber sein Gehirn könnte bei dem Sturz natürlich in Mitleidenschaft gezogen worden sein.“
Sobald sie im Haus waren, schickten sie nach Doktor Berger, der in Begleitung von Biedermann kam. Hamilton sah sie an, als sie das Zimmer betraten, und sagte dann auf Deutsch: „Ich kenne Sie.“
„Das freut mich zu hören“, sagte der Doktor und rückte seine Brille zurecht.
„Ja, ich kenne Sie. Sie sind der hässliche alte Doktor, der Sophie geheiratet hat, nachdem Sie in Seeon mit ihr im Mondschein spazieren gegangen sind.“
Der Arzt schüttelte den Kopf und wendete sich an Zedwitz, um zu erfahren, was passiert war. Nach einer gründlichen Untersuchung des Patienten befand er, dass er auf jeden Fall eine Gehirnerschütterung habe und zwei Wochen im Bett bleiben müsse. In den ersten Tagen schlief sein Freund Biedermann nachts auf dem Sofa in seinem Zimmer, während Zedwitz am Tag mehrere Stunden bei ihm verbrachte. Vielleicht waren die Besuche des Letzteren nicht völlig uneigennützig, denn auf diese Weise begegnete er Isabelle, die in den ersten Tagen nach Hamiltons Sturz stundenlang schweigend in seinem verdunkelten Zimmer saß, während Sophie alle Viertelstunde die Tür öffnete, um zu fragen, ob es ihm besser gehe, da ihre Mutter ihr streng verboten hatte, das Zimmer zu betreten.
Auch als er auf dem Weg der Genesung war, konnte Hamilton sich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Isabelle las ihm häufig vor, durfte ihm nicht widersprechen und nicht mit ihm streiten, und als er sich eines Tages über kalte Hände beklagte, hatte sie den Auftrag erhalten, für ihn einen Muff zu stricken, was sie offenbar mit Vergnügen tat. Außerdem hatte sie Schach spielen gelernt, um Biedermann zu ersetzen, wenn dieser nicht kommen konnte, und sich matt setzen zu lassen, so oft es Hamilton beliebte, ohne sich darüber zu ärgern. Er war allmählich etwas tyrannisch geworden, wie sie fand – er beschwerte sich, wenn sie zu lange spazieren ging, weigerte sich, sein Mittagessen zu essen, wenn sie es ihm nicht brachte, und bestand darauf, dass die ganze Familie die Abende in seinem Zimmer verbrachte, was sie daran hinderte, zu den Hoffmanns zu gehen. Zu seinen regelmäßigen Besuchern gehörte auch Madame Berger, und sie war stets willkommen, weil sie ihn belustigte.
Nach gut drei Wochen, als es ihm schon deutlich besser ging, sagte sie zu ihm: „Ich möchte wissen, wie lange Sie noch den Invaliden zu spielen gedenken. Es ist erstaunlich, wie sehr Männer leiden, wenn sie nur eine kleine Krankheit haben. Ich verliere alle Geduld, wenn ich den Doktor fünfzig Mal am Tag an seinen Puls greifen und ein halbes Dutzend guter Freunde fragen höre, wenn sein Herz ein wenig schneller als gewöhnlich schlägt – während ich alle Tage Herzklopfen habe und nie daran denke, mich zu beklagen oder mir einzubilden, dass ich herzkrank sei! Mein Vater war noch schlimmer als der Doktor. Wenn er Herzklopfen hatte, dann setzte er sofort seine schwarzseidene Nachtmütze auf, hüllte sich in seinen Schlafrock und
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