Die Versuchung
rief Hamilton. „Was hat ihn bewogen, zu Weihnachten dorthin zu gehen?“
„Keine Ahnung! Er wohnt schon seit ein paar Wochen dort und ...“
„Er wohnt dort!“, wiederholte Hamilton erstaunt. „Das ist sehr sonderbar.“
Der Diener öffnete die Haustür, nahm eine Kerze, die im Treppenhaus brannte, und ging hinauf bis ins Dachgeschoss. Sie kamen durch mehrere leere Dachzimmer ehe sie das von Zedwitz erreichten. Die vornehmen Möbel bildeten einen seltsamen Kontrast zu den weiß getünchten Wänden, der Dachschräge und den kleinen Dachfenstern. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Sofa, mehrere Armsessel und zwei Tische fanden nur mit Mühe hier Platz. Ein Fremder saß am Bett und stand auf, als Hamilton eintrat.
„Man hat Sie also doch hierher gebracht“, sagte Zedwitz. „Ich hoffe, dass man Sie wenigstens gewarnt hat – es könnte sein, dass ich die Cholera habe.“
„Ich halte sie nicht für ansteckend“, sagte Hamilton, „und wenn ich etwas für Sie tun kann, dann werde ich gerne bleiben.“
„Wenn es mir morgen früh nicht besser geht – also wenn keine Hoffnung auf Genesung besteht, können Sie nach Edelhof schreiben“, sagte Zedwitz langsam. „Ich möchte niemanden von meiner Familie sehen, nicht einmal Agnes. Es wäre zu gefährlich für sie.“
„Haben Sie Doktor Berger kommen lassen?“
„Nein. Ich bin nicht in meiner eigenen Wohnung, außerdem erzählt er alles seiner geschwätzigen Frau, die alles, was sie erfährt, jedem erzählt, der es hören will.“
„Aber warum sind Sie hier?“, fragte Hamilton.
Ein heftiger Magenkrampf machte dem Gespräch ein Ende. Zedwitz schien von Stunde zu Stunde schwächer zu werden, Hamiltons Besorgnis wuchs. Endlich schickte er nicht nur nach Doktor Berger, sondern auch nach seinem Freund Biedermann, und als dieser erklärte, es sei sehr ernst, schrieb er einen Brief an seine Eltern in Edelhof, den er durch seinen eigenen Diener persönlich überbringen ließ.
Am späten Abend des 26. Dezember lag Zedwitz bewusstlos im Bett. Biedermann hielt ihm wiederholt eine Feder unter die Nase, um zu sehen, ob er noch atmete. Hamilton erhob sich von seinem Sessel und ging ans Fenster. Er stolperte über einen Gegenstand – es war der Ständer eines Teleskops, das so aufgestellt war, dass man durch ein kleines Loch im Vorhang blicken konnte. Er stutzte, bückte sich und sah hindurch. Sofort befand er sich im Rosenbergschen Salon. Die Musselinvorhänge waren noch nicht zugezogen und er sah die Vorbereitungen für ein Kartenspiel; kurz darauf traten die Hoffmanns mit Graf Raimund ein, der sich ans Klavier setzte. Er erwartete, dass Isabelle zu ihm gehen würde, aber stattdessen trat sie ans Fenster und schien geradewegs zu ihm herüber zu sehen. Unwillkürlich zuckte er zurück. Wusste sie, wo er war? Oder wusste sie, dass Zedwitz seit einiger Zeit hier wohnte?
Ihm fiel die nächtliche Treppenszene ein und die Idee, dass es sich bei dem Doppelgänger vielleicht nicht um Raimund, sondern um Zedwitz gehandelt hatte, durchzuckte ihn wie ein Blitz. Er ging auf das Bett zu, aber seine wütende Frage erstarb ihm auf den Lippen, als er das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht sah. Zedwitz schien jedoch wieder bei Bewusstsein, er reagierte, als Biedermann ihn ansprach. Etwas später fragte er Hamilton leise: „Haben Sie sie gesehen?“
„Ja, sie stand am Fenster – ich hatte den Eindruck, dass sie zu diesem Fenster geschaut hat.“
Dann wurde Hamilton nach unten gerufen. Rosenbergs Diener Johann war von Isabelle geschickt worden, um nach Zedwitz' Zustand zu fragen.
„Woher weiß Mademoiselle Isabelle, dass wir hier sind?“, fragte Hamilton.
„Sie hat heute früh Ihren Reitknecht gefragt, als er Ihre Sachen zusammengepackt hat. Sie hofft, dass Sie auf sich aufpassen und so oft wie möglich an diesem kleinen Säckchen riechen, damit es Sie vor Ansteckung schützt.“
Hamilton lächelte, als er ein seidenes Säckchen mit Kampfer in Empfang nahm.
„Wollen Sie mir nicht ein paar Zeilen für das Fräulein mitgeben? Sie ist sehr beunruhigt.“
Hamilton schrieb einige Zeilen mit Bleistift.
„Sie hat gesagt, dass Sie das Säckchen um den Hals tragen müssen und dass sie jeden Morgen in der Frauenkirche für Sie beten wird.“
„In der Frauenkirche?“, fragte Hamilton hastig. „Um wieviel Uhr wird sie dort sein?“
„Gewöhnlich zwischen sechs und sieben Uhr“, antwortete der Diener mit einem wissenden Blick, der Hamilton keineswegs angenehm war.
„Sagen
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