Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
als würde ich auf einer Woge durch Jacks Geist surfen.
Da ich jetzt wusste, wonach ich suchen musste, fiel es mir nicht schwer, die Erinnerungen meiner Mom zu finden. Völlig mühelos strömten sie von Jack zu mir und machten mich stärker. Mein Dad, Film-Sets, Küsse im Wohnwagen, ihre Hochzeit an einem Strand in Bali. Meine Geburt, ich als Kleinkind, meine ersten Schritte. Mein mit Erbsenbrei beschmiertes Gesicht, mein Lachen. Vom Kindergarten bis zum Teenageralter im Schnelldurchlauf, während mein Dad älter wurde. Weitere Bilder: Wie meine Mom mit mir gekocht und mir beim Schwimmen zugeschaut hatte. Dann folgten Bilder, die ich nicht verstand: ein weißes Haus auf einem Hügel, Sumpfland, ein älteres Ehepaar, eine viel jüngere Teague?
Ich bremste die Bilderflut, um das letzte Bild zu analysieren. Dadurch hatte Jack die Möglichkeit, Widerstand zu leisten.
Seine Gegenwehr bestand darin, mir Dinge zu zeigen, die ich nicht sehen wollte. Emerson außer sich vor Schmerz mit schrecklichen Brandwunden. Mein Vater und Michael in vertrauensvollem Einverständnis. Dads Hand auf Michaels Schulter. Das Wort Sohn .
Der heftige Schmerz, der mich völlig unvermittelt überkam, ließ mich fast zusammenbrechen, bevor ich erkannte, dass es eine Lüge war.
Nun hörte ich Lilys leise, eindringliche Stimme, wie sie Teague die Informationen gab, die sie wollte.
Ich bohrte den Daumen in Jacks Wange. Ich sah Erinnerungen, die er Ava, Emerson, Michael und sogar Lily genommen hatte. Einiges sah ich gern, anderes nicht so gern. Zu entscheiden, was ich mit Jacks Opfern teilen sollte und was nicht, würde ein langer schmerzhafter Prozess sein.
Trotzdem nahm ich alles in mich auf.
Sobald ich sicher war, dass ich alles hatte, was ich brauchte, ließ ich von ihm ab. Ich hatte die Erinnerungen meiner Eltern. Jetzt konnte ich Rache nehmen.
Ich starrte ihn an, wie er scheinbar eine halbe Ewigkeit lang hilflos auf dem Boden lag. Würde bei ihm dieselbe schwarze Leere zurückbleiben wie bei seinen Opfern, wenn man ihm die Erinnerungen anderer Menschen raubte? Das konnte ich nur hoffen.
Vorsichtshalber zog ich ihm noch meinen Gipsarm über.
»Sind wir jetzt quitt?«, fragte ich und ging vorsichtig auf Lily und Teague zu.
Teague sah Lily dabei zu, wie sie den Skroll abschaltete. »Ja.«
Lilys Gesichtszüge wirkten gefasst.
»Ich versuche schon eine ganze Weile, all das auf die Reihe zu bekommen«, begann sie und warf Teague einen fragenden Blick zu, um sich ihrer Zustimmung zu vergewissern. »Ich habe jeden Fleck auf allen Karten des Skrolls berührt in jeder Ecke der ganzen Welt. Ich dachte schon, das Infinityglass würde gar nicht existieren, doch dann ist mir etwas aufgefallen. Statt mir die Karten anzuschauen, habe ich die anderen Informationen untersucht.«
»Lily hat herausgefunden, was alle anderen seit vielen Jahren übersehen haben.« Teague nahm den Skroll entgegen. »Das Infinityglass ist kein Gegenstand.«
Lily sah mir in die Augen. »Das Infinityglass ist eine Person. Ich hab Teague gesagt, wie leid es mir tut, dass ich ihr nicht weiterhelfen kann. Da ich nur in der Lage bin, Gegenstände aufzuspüren.«
»Danke für die Information, Lily. Sollte ich dich noch einmal brauchen, weiß ich ja, wo ich dich finden kann. Und hab keine Angst, ich kümmere mich um das Ganze, ich kümmere mich um uns alle.« Mit einem boshaften Lächeln blickte Teague auf den bewusstlosen Jack hinab.
Zusammen verließen Lily und ich den Uhrenturm.
54. KAPITEL
L ily hielt meine rechte Hand, als ich das Zimmer meiner Mom betrat. Dad war an meiner linken Seite. Seine schwelende Hoffnung war ermutigend und verwirrend.
»Und wenn es nicht funktioniert?« Meine größte Befürchtung.
»Es wird schon klappen«, sagte Dad. »Mich hast du doch auch wiederhergestellt.«
»Er hat Recht.« Lily drückte meine Hand. »Du hast uns beiden die Erinnerungen zurückgegeben. Es funktioniert bestimmt.«
Die Morgensonne schien durch das achteckige Treppenhausfenster. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Dune, Nate und Ava hatten sich aufgeteilt und sich auf die Suche nach Emerson und Michael gemacht. Keiner mochte die Hoffnung aufgeben.
Sie durften einfach nicht tot sein.
»Begleitest du mich?«, fragte ich Lily. Ihre Großmutter saß in einem gigantischen Schneesturm in North Carolina fest. Lilys Abi betonte immer, sie stamme von einer tropischen Insel und tauge deshalb nicht dazu, durch verschneite Landschaften zu fahren. Ich war nicht scharf
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