Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Mund nicht zu. Es war das erste Mal, dass ich Avas Fähigkeiten live miterlebte.
»Was meinst du mit ›kaum war er da, war er schon wieder weg‹?«, fragte sie, ohne den verschütteten Kaffee zu beachten. »Wieso hast du ihn nicht aufgehalten?«
»Ich hab’s versucht.« Ich erklärte die Sache mit Chronos und dem Ultimatum, wobei ich Ems aufgeschlitzten Hals unter den Tisch fallen ließ. »Bis Halloween müssen wir Jack gefunden haben, sonst sind wir Chronos ausgeliefert.«
Als sie zitterte, reichte ich ihr den Pulli, der über der Sofalehne lag. Sie zog ihn über und schlang die Arme um den Körper.
»Hey«, sagte ich um einen tröstlichen Tonfall bemüht. »Hab keine Angst. Er wird dir nichts mehr tun. Wir passen auf dich auf.«
»Wie denn? Wird mich jemand rund um die Uhr bewachen?« Die Fernbedienung ruckelte über den Glastisch, blieb jedoch oben. Ava schloss die Augen und atmete tief ein und aus. »Und es geht ja nicht nur um mich. Was ist mit Emerson? Und mit deiner Mom? Er hat jahrelang hier gearbeitet und kennt das Gelände und die Gebäude wie seine Westentasche.«
Angst .
»Du bist ganz allein hier draußen«, stellte ich plötzlich fest.
»Danke für die Information, du Blitzmerker.«
Eine von Avas Mitbewohnerinnen hatte Examen gemacht; die beiden anderen waren zu Schuljahresbeginn nicht zur Hourglass-Schule zurückgekehrt. Wahrscheinlich wegen all des Geredes, der Gründer der Schule sei von einer Schülerin ins Jenseits befördert worden und in seinem Labor in die Luft geflogen und darauf wieder von den Toten auferstanden. Ich fasste einen spontanen Entschluss. »Ich schlage vor, du ziehst in unser Gästezimmer.«
»Wie bitte?«, schnaubte Ava ungläubig. Schock. Ein kleines bisschen Hoffnung. »Bist du betrunken?«
»Ausnahmsweise mal nicht.« Ich starrte auf den Kaffeefleck an der Tapete. »Was Jack dir angetan hat, war ein großes Unrecht. Was er uns allen angetan hat, war ein großes Unrecht. Wir müssen darüber hinwegkommen und ihn finden, und dazu musst du mir vertrauen.«
»Dir vertrauen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich soll dir vertrauen?«
»Hör auf, ständig mit mir zu streiten.«
Sie stand abrupt auf und verschwand in der winzigen Küche, wo sie so lange blieb, dass ich überlegte, ob ich ihr folgen sollte. Schließlich kehrte sie mit einer Küchenrolle zurück und versuchte verbissen, die Kaffeespritzer von der Tapete zu wischen.
»Kaleb, ich will nicht mit dir streiten. Ich möchte mit niemandem Streit. Aber du hast mich gerade gebeten, dir zu vertrauen. Wie ist es mit dem Vertrauen zu mir? Wie könnte einer von euch auch nur meinen Anblick ertragen?« Ein ganzes Meer aus trostloser Einsamkeit wogte durch den Raum. »Wie kannst du mir anbieten, in euer Haus zu ziehen nach allem, was passiert ist. Ich habe deinen Vater getötet.«
»Was vorbei ist, ist vorbei.« Ein riesiger Wust aus Schmerz türmte sich in ihr auf, so gewaltig und komplex, dass ich nicht recht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Wortlos ging ich auf sie zu und kniete mich vor ihr hin. Sie beruhigte sich ein wenig, mied jedoch meinen Blick. »Was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Jack und Cat waren die Schuldigen. Sie haben dich benutzt und genötigt.«
»Das ist nicht wahr. Weißt du nicht mehr, wie ich Michael bedrängt habe und wie ich Emerson aus lauter Eifersucht gehasst habe? Wie ich versucht habe, deinen Dad umzubringen – was mir dann ja auch gelungen ist? Wie hätte ich mich derart grauenhaft aufführen sollen, wenn ich es nicht selbst gewollt hätte?« In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich muss es doch gewollt haben, oder?«
»Ich glaube nicht, dass wir uns über Jack im Klaren sind. Wir wussten ja nicht mal von seiner Fähigkeit, anderen Menschen die Erinnerungen zu stehlen. Denk darüber nach. Niemand hat ihn je gefragt, wieso er hier war. Oder vielleicht haben wir ihn gefragt, und er hat uns die Erinnerung daran genommen.«
Ava hob die leere Kaffeetasse auf und stellte die Küchenrolle auf die Anrichte. »Wenn einem zu viele Erinnerungen genommen werden, ohne sie durch andere zu ersetzen, bleibt nichts als Leere.«
Eine Leere wie die Leere in ihrem Inneren, das nun beherrscht wurde von einem Grauen erregenden Wirbel aus zermürbenden, hasserfüllten Abgründen der Selbstverachtung, Ängsten und Zweifeln. Nichts konnte ihre Gefühlswelt verändern. Niemals konnte Freude in das verworrene Chaos vordringen, die Dunkelheit überwinden und Hoffnung aufkeimen lassen.
Ich
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