Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Ballerina im lila Tuturöckchen kam herbeigetanzt und hielt ihren Korb hin. Ich fischte ein paar Schokoteile aus dem Kübel und gab ihr zwei. Sie schenkte mir ein Lächeln ihrer mit pinkfarbenem Lipgloss geschminkten Lippen, wobei ihre Zahnlücke, in der zwei Schneidezähne fehlten, zum Vorschein kam.
Ich gab ihr die ganze Hand voll.
»Lily weiß, dass alle bei Hourglass eine zeitbezogene Fähigkeit besitzen«, erwiderte Em. »Aber ich bin nicht ins Detail gegangen.«
»Wir haben ihr das Zeitreise-Phänomen erklärt, aber weiter nichts«, sagte Michael. Sein Handy klingelte, und nach einem kurzen Blick aufs Display sagte er: »Bin gleich wieder da. Hallo?«
»Warum habt ihr euch beieinander entschuldigt, du und Lily?« In dem Moment kamen ein paar Jungs vorbei, und ich bot ihnen ein paar Schokoriegel an, die sie zu den anderen Süßigkeiten in ihre Kopfkissenbezüge stopften, die fast aus den Nähten platzten.
Em starrte auf Michaels Rücken und setzte sich auf eine Bank zwischen zwei Blumenkübeln, die mit bunten Herbstblumen bepflanzt waren. »Ich kann nicht darüber reden.«
Obwohl ich Emotionen erspüren konnte, war mir deren Grund nicht immer bekannt. Wenn jemand wütend war, konnte es an mir liegen oder daran, dass die Yankees gewonnen hatten. Furcht konnte durch ein berufliches Problem hervorgerufen werden oder durch das Warten auf das Ergebnis einer medizinischen Untersuchung. Diese ständige Ungewissheit war mir verhasst.
Wie jetzt bei Em. Ich verstand nicht, warum ich Furcht bei ihr spürte – Furcht gepaart mit Schuldgefühlen.
»Wieso kannst du nicht darüber reden?«, fragte ich.
Sie tippte mit der Schuhspitze auf den Beton. »Jemand hat sich mir anvertraut, und ich hab versprochen, niemandem davon zu erzählen. Nicht dass ich dir nicht vertraue … Es ist nur, ich kann nicht.«
Ich nahm mir etwas Süßes aus der Schüssel. »Aber Michael weiß davon?«
Em zögerte kurz, bevor sie antwortete. »Nun ja, ich musste es ihm erzählen.«
»Klar.« Ich stellte die Schüssel zurück auf den Stuhl, lächelte verbindlich und marschierte davon.
»Warte, Kaleb.«
Ich hatte den Platz überquert, auf dem lauter Buden mit Eingemachtem, handgezogenen Kerzen und hässlichen Puppen standen, als Emerson mich vor dem Ivy-Springs-Kino einholte.
Sie hielt meinen Arm fest. »Bitte.«
Ihr Gesicht war so verletzlich, genau wie in dem Moment, bevor Poe ihr die Kehle durchschnitten hatte. Die Erinnerung daran, wie sie blutend und leblos am Boden gelegen hatte, bedrückte mich. »Was ist?«
»Michael hat schon eine ganze Weile von der Sache gewusst. Ich will nichts vor dir verbergen. Aber ich habe versprochen, nichts zu verraten, und ich kann mein Versprechen nicht brechen.«
Ihre Ehrlichkeit war entwaffnend. Dieses Mädchen war die Aufrichtigkeit in Person. »Du hältst Wort, komme, was da wolle, nicht wahr?«
Ihre Hand lag noch immer auf meinem Arm. »Ich habe ihm nie erzählt, wie du mir den Schmerz genommen hast, als ich dachte, er wäre tot.«
»Du meinst, wie ich versucht habe, ihn dir zu nehmen.« Ich war bereit gewesen, ihre Trauer für sie zu ertragen, doch sie hatte mich nicht gelassen.
»Was geschehen ist, war etwas zwischen uns beiden«, sagte sie. »Und es war kein Vertrauensbruch.«
Ich wusste, dass ein Teil von ihr es sehr wohl als solchen empfand. Es war eine sehr persönliche Sache, jemandem ein Gefühl abzunehmen, und schaffte eine starke Verbundenheit. Und in Emersons Fall wollte ich diese Verbundenheit nicht aufheben, obwohl mir klar war, dass ich es musste.
»Du kannst es ihm ruhig erzählen. Ich habe nichts dagegen. Es war dein Schmerz, deine Angelegenheit«, beharrte ich, als sie Einspruch erheben wollte. »Es ist deine Aufgabe, ihm das anzuvertrauen, nicht meine.«
»Nur wenn du mir versprichst, danach mit ihm zu reden.«
Ich nickte. Sie würde ihm erzählen, wie es uns beide miteinander verband. Ich würde ihm versprechen müssen, diese Verbindung zu lösen.
»Bald. Und mit deinem Dad musst du auch reden. Wie du heute wieder mit ihm gestritten hast! Er will doch nur das Beste für uns alle.«
»Ich bin noch nicht bereit, mit meinem Dad zu reden.« Ich starrte auf die Filmposter an der Wand des Kinos. Es musste sich um eine Art Revival handeln, da sämtliche Poster für Schwarz-Weiß-Filme warben – abgesehen von Vom Winde verweht .
»Er liebt dich. Er ist stolz, dich als Sohn zu haben, seinen einzigen Sohn.«
»Ja, ja.« Er liebte mich. Aber er vertraute Michael. Jeder
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