Die Versuchung
letzte. Sie konnte jetzt nie mehr zurück. Es gab keinen Ort, an den sie hätte zurückgehen können. Sie hatte sich ein neues Leben verschafft, doch um welchen Preis ! Ihre Vergangenheit war reine Erfindung, ihre Gegenwart eine Lüge und ihre Zukunft ungewiß. Und jeden Tag war da die Angst, daß die fadenscheinige Fassade zusammenbrechen könnte, die ihre wahre Identität kaschierte; jeden Tag waren da die schrecklichen Schuldgefühle des Verbrechens wegen, das sie begangen hatte. Wenn sie überhaupt noch für irgend etwas lebte, dann nur, um dafür zu sorgen, daß Lisas Leben auf keine Weise durch die Taten ihrer Mutter in der Vergangenheit – und der Zukunft – Schaden nahm. Was immer auch geschehen mochte, ihr kleines Mädchen würde nicht durch ihre Schuld leiden.
LuAnn stieg wieder in den Sattel, trieb Joy zum Galopp und zügelte die Stute nach einer Weile, bis sie im Schritt ging, da die Zweige tief herabhingen. Sie lenkte Joy an den Rand des Pfades und beobachtete die dahinhuschenden Gischtwirbel des Baches, der Hochwasser führte und auf einem Zickzackweg ihr Anwesen durchschnitt. In letzter Zeit hatte es heftig geregnet, und der frühe Schneefall in den Bergen hatte den sonst so ruhigen Bach in ein reißendes, gefährliches Gewässer verwandelt. LuAnn lenkte Joy vom Ufer weg und ritt weiter.
Vor zehn Jahren, als sie, Charlie und Lisa in London gelandet waren, hatten sie sofort ein Flugzeug nach Schweden genommen. Jackson hatte ihnen einen detaillierten Marschbefehl für die ersten zwölf Monate gegeben, und sie hatten es nicht gewagt, davon abzuweichen. Die nächsten sechs Monate waren sie wie ein Wirbelwind kreuz und quer durch Westeuropa gereist. Danach folgten mehrere Jahre in Holland; dann ging es wieder zurück nach Skandinavien, wo eine große, blonde Frau nicht so fehl am Platz wirkte. Sie hatten auch einige Zeit in Monaco und den Mittelmeerländern verbracht. Die letzten beiden Jahre waren sie in Neuseeland gewesen und hatten die ruhige, zivilisierte, beinahe ein wenig altmodische Lebensart genossen. Lisa beherrschte zwar mehrere Fremdsprachen, doch Englisch war stets ihre Hauptsprache gewesen. Darauf hatte LuAnn bestanden. Sie war Amerikanerin, auch wenn sie sehr viel Zeit im Ausland verbracht hatte.
Es war ein ausgesprochener Glücksfall gewesen, daß Charlie ein so erfahrener Globetrotter war. Zu einem großen Teil war es sein Verdienst gewesen, daß sie etliche Male einer möglichen Katastrophe entronnen waren. Von Jackson hatten sie zwar nichts gehört, sie waren jedoch davon ausgegangen, daß er wußte, daß Charlie bei LuAnn und Lisa war. Gott sei Dank war er bei ihnen! LuAnn wußte nicht, was sie getan hätte, wäre Charlie damals nicht zu ihr ins Flugzeug gestiegen.
Und noch immer kam sie ohne Charlie nicht zurecht. Doch er wurde nicht jünger. LuAnn überlief es eiskalt bei der Vorstellung, ohne diesen Mann leben zu müssen. Dann wäre sie des einzigen Menschen beraubt, der ihr Geheimnis teilte, der sie und Lisa liebte. Charlie würde alles für sie beide tun. Doch er wurde alt, und wenn er starb und diese Leere sich auftat … LuAnn holte tief Luft.
Ihre neuen Identitäten waren im Laufe der Jahre gleichsam zementiert worden, da LuAnn sich größte Mühe gegeben hatte, die Geschichte als wahr darzustellen, die Jackson für sie und ihre Tochter zusammengestrickt hatte. Dabei hatte Lisa sich als das größte Problem erwiesen. Das Mädchen glaubte, ihr Vater wäre ein superreicher europäischer Finanzmagnat gewesen, der gestorben war, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und der außer Frau und Tochter keine Familie mehr gehabt hatte. Obwohl sie Lisa nie vollends erklärt hatte, welche Rolle Charlie spielte, war es für das Mädchen selbstverständlich, daß er zur Familie zählte und ganz natürlich zum »Onkel« wurde.
Es gab keine Fotos von Mr. Savage. LuAnn hatte Lisa erklärt, ihr Vater wäre sehr zurückgezogen und ein bißchen exzentrisch gewesen und hätte nicht einmal Fotos von sich erlaubt. LuAnn und Charlie hatten lange darüber diskutiert, ob sie für Lisa gleichsam einen Vater »erschaffen« sollten, mit Fotos und allem Drum und Dran, doch letztendlich war es ihnen zu gefährlich erschienen. Eine Wand, in die Löcher gestanzt waren, stürzte irgendwann ein. Und deshalb glaubte Lisa, ihre Mutter wäre die sehr junge Witwe eines schwerreichen Mannes, dessen Vermögen sie zu einer der wohlhabendsten Frauen der Welt gemacht hatte – und zu einer der
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