Die Versuchung
nichts dagegen tun. Ich bin vor jeder Klassenarbeit nervös. Es ist nicht immer leicht.«
»Die meisten Dinge im Leben, die es wert sind, fliegen einem nicht zu. Aber du gibst dir Mühe, und vor allem darauf kommt es an. Du gibst dein Bestes. Mehr kann ich nicht von dir erwarten, ganz gleich, welche Noten du bekommst.« Sie flocht Lisas Haar zu einen Pferdeschwanz und band eine Schleife darum. »Aber bring mir ja keine Zwei nach Hause.« Beide lachten.
Als sie nach unten gingen, blickte Lisa die Mutter an. »Ich habe gesehen, wie du draußen mit einem Mann geredet hast. Du und Onkel Charlie.«
LuAnn bemühte sich, ihr Erschrecken zu verbergen. »Du warst schon wach? Es war ziemlich früh.«
»Ich hab’ doch gesagt, daß ich wegen der Klassenarbeit nervös war.«
»Verstehe.«
»Wer war der Mann?«
»Er baut den Sicherheitszaun um unser Grundstück. Er hatte wegen der Baupläne ein paar Fragen. Deshalb war er hier.«
»Warum brauchen wir einen Sicherheitszaun?«
LuAnn nahm Lisas Hand. »Darüber haben wir doch schon gesprochen, Lisa. Uns geht es finanziell sehr, sehr gut. Das weißt du. Aber es gibt schlechte Menschen auf der Welt. Sie könnten versuchen, Geld von uns zu verlangen.«
»Du meinst, uns ausrauben?«
»Ja, oder etwas anderes.«
»Zum Beispiel?«
LuAnn blieb stehen, setzte sich auf die Treppenstufen und bedeutete Lisa, neben ihr Platz zu nehmen. »Erinnerst du dich, daß ich dir immer eingeschärft habe, vorsichtig zu sein und Fremden nicht zu trauen?« Lisa nickte. »Das habe ich deshalb zu dir gesagt, weil schlechte Menschen versuchen könnten, dich mir wegzunehmen.«
Lisa blickte sie furchtsam an.
»Ich will dir keine Angst machen, Schatz, aber ich möchte, daß du immer und überall gut aufpaßt, was um dich herum geschieht. Wenn du deinen Verstand gebrauchst und die Augen offenhältst, kann gar nichts geschehen. Onkel Charlie und ich werden nicht zulassen, daß dir etwas passiert. Das verspreche ich dir, okay?«
Lisa nickte. Dann stiegen Mutter und Tochter Hand in Hand die Treppe hinunter.
Charlie wartete in der Eingangshalle auf sie. »Aber hallo! Heute morgen sehen wir aber ganz besonders hübsch aus.«
»Ich schreibe eine Klassenarbeit.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich habe doch gestern abend bis halb elf mit dir gebüffelt. Du schreibst eine Eins, das steht mal fest. Hol deinen Mantel. Ich warte vorn im Wagen auf dich.«
»Bringt Mom mich heute nicht zur Schule?«
Charlie warf LuAnn einen flüchtigen Blick zu. »Ich löse Mom heute ab. Außerdem können wir dann noch mal den Stoff durchgehen, stimmt’s?«
Lisa strahlte. »Stimmt.«
Nachdem Lisa gegangen war, schaute Charlie LuAnn mit besorgter Miene an. »Ich werde in der Stadt einige Dinge überprüfen, sobald ich Lisa abgesetzt habe.«
»Meinst du, du findest diesen Kerl?«
Charlie zuckte mit den Schultern und knöpfte den Mantel zu. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Stadt ist nicht groß, aber es gibt viele Verstecke. Einer der Gründe, warum wir sie ausgesucht haben, nicht wahr?«
LuAnn nickte. »Und was ist mit Riggs?«
»Den hebe ich mir für später auf. Wenn ich gleich bei ihm anklopfe, wird er vielleicht noch mißtrauischer, als er ohnehin schon ist. Ich ruf’ dich vom Auto aus an, wenn ich etwas rausfinde.«
LuAnn beobachtete, wie die beiden in Charlies Range Rover stiegen und davonfuhren. Tief in Gedanken versunken zog sie eine dicke Jacke an und ging durchs Haus nach hinten. Dann vorbei am Swimmingpool, der olympiareife Ausmaße besaß und von einer mit Steinplatten gedeckten Terrasse und einer fast ein Meter hohen Mauer umgeben war.
Zu dieser Jahreszeit war der Pool trockengelegt und durch eine Metallabdeckung geschützt. Nächstes Jahr würden sie wohl den Tennisplatz anlegen. LuAnn hatte für beide Sportarten nicht viel übrig. In ihrer ärmlichen Kindheit hatte sie keine Gelegenheit gehabt, aus Spaß an der Freude einen gelben Ball über ein Netz zu schlagen oder in gechlortem Wasser zu schwimmen. Lisa jedoch war eine begeisterte Schwimmerin und Tennisspielerin. Kaum waren sie in Wicken’s Hunt eingezogen, hatte das Mädchen sich sehnlichst einen Tennisplatz gewünscht. Eigentlich war es schön zu wissen, so lange an einem Ort zu bleiben, daß man tatsächlich so etwas planen konnte wie einen Tennisplatz weiter unten an der Straße.
Doch auch LuAnn hatte während ihrer Reisen die Vorliebe für eine Sportart entwickelt, und deshalb war ihr Ziel jetzt der Pferdestall, der knapp
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