Die Versuchung
vierhundert Meter hinter der Villa stand und auf drei Seiten von dichtem Wald abgeschirmt war. Mit schnellen Schritten war sie dort. Sie hatte mehrere Leute fest angestellt, die sich um Garten und Stall kümmerten, aber sie fingen erst später mit der Arbeit an. LuAnn holte Sattel und Zaumzeug aus der Sattelkammer und machte gekonnt ihr Pferd reitfertig, das sie nach ihrer Mutter »Joy« genannt hatte. Dann nahm sie einen Stetson und Lederhandschuhe von der Wand und schwang sich in den Sattel.
Sie besaß Joy nun schon mehrere Jahre. Das Pferd war mit ihnen zusammen in etliche Länder gereist. Es war nicht einfach gewesen, aber machbar für jemanden, dessen Geldmittel unerschöpflich sind. LuAnn, Charlie und Lisa waren mit dem Flugzeug nach Amerika gekommen, Joy hatte die Überfahrt auf einem Schiff gemacht.
Einer der Gründe, warum LuAnn und Charlie sich für dieses Anwesen entschieden hatten, waren die unzähligen Reitwege, von denen einige wohl noch aus der Zeit Thomas Jeffersons stammten.
LuAnn trabte los, und bald war die Villa nicht mehr zu sehen. Der Atem begleitete Roß und Reiterin in weißen Doppelwolken, als sie einen Abhang und dann um eine Kurve trabten. Dichter Wald stand auf beiden Seiten des Pfades. Die morgendliche Kühle half LuAnn, einen klaren Kopf zu bekommen und über alles nachzudenken.
Sie hatte den Mann im Honda nicht erkannt; sie hatte es allerdings auch nicht erwartet. Gegen alle Instinkte hatte LuAnn immer damit gerechnet, daß die Entdeckung von unbekannter Seite her erfolgen würde. Der Mann hatte ihren richtigen Namen gekannt. Sie hatte keine Ahnung, ob er ihn erst kürzlich erfahren hatte oder schon vor langer Zeit.
Oft hatte sie daran gedacht, nach Georgia zurückzugehen und die Wahrheit zu sagen, reinen Tisch zu machen und zu versuchen, alles hinter sich zu bringen. Doch diese Gedanken waren niemals so weit gereift, daß ihnen Taten gefolgt waren. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Obgleich LuAnn den Kerl im Wohnwagen aus Notwehr getötet hatte, mußte sie ständig an die Worte des Mannes denken, der sich Rainbow genannt hatte. Sie hatte sich damals aus dem Staub gemacht, und deshalb würde die Polizei das Schlimmste annehmen. Hinzu kam, daß sie jetzt unermeßlich reich war – wer würde da noch Mitleid mit ihr haben? Kaum jemand. Am allerwenigsten die Leute in ihrer Heimatstadt. Es gab viele Shirley Watsons auf der Welt.
Und noch etwas kam hinzu. Sie, LuAnn, hatte etwas getan, das sie niemals hätte tun dürfen. Das Pferd, das sie ritt, die Kleider, die sie trug, das Haus, in dem sie lebte, die Bildung und Weltgewandheit, die sie und auch Lisa sich im Laufe der Jahre angeeignet hatten – das alles war im Grunde mit gestohlenen Dollars gekauft und erworben worden. Zumindest was die Steuerbehörde betraf, war LuAnn eine der größten Gaunerinnen der Geschichte. Falls nötig, würde sie einen Prozeß wegen dieser Sache durchstehen – aber dann erschien Lisas Gesicht vor ihrem geistigen Auge. Beinahe gleichzeitig drangen wie durch einen Filter die Worte Benny Tylers auf sie ein, die sie damals auf dem Friedhof zu hören geglaubt hatte.
Tu es für Big Daddy. Wann habe ich dich je angelogen, meine Süße? Daddy liebt dich.
Sie zügelte Joy, blieb stehen und barg den Kopf in den Händen, als eine schmerzliche Vision in ihren Verstand drang.
Lisa, meine Süße, dein ganzes Leben ist eine Lüge. Du bist in einem Wohnwagen im Wald geboren, weil ich es mir nicht leisten konnte, dich irgendwo anders zu bekommen. Dein Vater war ein totaler Versager, der wegen einer Drogengeschichte ermordet wurde. Ich habe dich unter die Theke der Fernfahrerkneipe Number One in Rikersville, Georgia, gestellt, während ich an den Tischen bedient habe. Ich habe einen Mann getötet und bin vor der Polizei davongelaufen. Mom hat das ganze Geld gestohlen – mehr Geld, als du dir vorstellen kannst. Alles, was du und ich haben, alles, was wir sind, haben wir mit diesem gestohlenen Geld gekauft.
Wann hat Mom dich je belogen, meine Süße? Mom liebt dich.
Langsam stieg LuAnn vom Pferd und ließ sich auf einen großen Stein niedersinken, der aus dem Boden ragte. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Ihr Kopf pendelte langsam hin und her, als wäre sie betrunken.
Schließlich stand sie auf, nahm eine Handvoll kleiner Steine und warf sie mit schnellen, anmutigen Bewegungen aus dem Handgelenk über die glatte Oberfläche eines kleinen Teichs. Jedes Steinchen flog weiter als das
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