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Die Versuchung

Die Versuchung

Titel: Die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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einer Hand abzählen, wie oft sie in einem Aufzug gefahren war. Nie hatte sie ein Haus besessen oder ein Auto. Tatsache war, daß sie eigentlich nie irgend etwas besessen hatte. Kein Bankkonto hatte je ihren Namen getragen. Sie konnte die englische Sprache ganz gut lesen, schreiben und sprechen, aber sie war eindeutig nicht für die Gesellschaftsseiten der Zeitungen geschaffen. Jackson hatte gesagt, sie könnte alles haben. Aber konnte sie das wirklich? Konnte man eine Kröte tatsächlich aus dem Schlamm herausholen und in ein Schloß in Frankreich setzen und glauben, daß es gutgeht? Aber sie brauchte das alles ja gar nicht zu tun. Sie mußte ihr Leben ja nicht so radikal ändern und zu einem Menschen werden, der sie nie und nimmer war. Es lief ihr eiskalt über den Rücken.
    Genau darum ging es. Sie warf das lange Haar aus dem Gesicht, lehnte sich gegen Lisa und streichelte ihrer Tochter über die Stirn, über die goldene Löckchen hingen. LuAnn holte tief Atem und füllte die Lungen mit der duftenden Frühlingsluft, die durch das offene Fenster in den Bus wehte. Ja, genau darum ging es: Sie wünschte sich sehnlichst, jemand anderer zu sein als jetzt. Beinahe ihr ganzes Leben lang hatte sie diesen Wunsch gehabt und darauf gehofft, es eines Tages zu schaffen. Doch mit jedem Jahr war die Hoffnung blasser geworden, zu einer Art Traum, der sich irgendwann ganz von ihr lösen und davonschweben würde. Und schließlich, wenn sie alt und verschrumpelt war, wenn ihr rasch schwindendes, unbedeutendes Leben verblaßte, würde sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, je solche Träume gehabt zu haben. Jeden Morgen, wenn sie neben Duane aufwachte, wurde ihre düstere Zukunft deutlicher – wie die Bilder im Fernsehen, wenn man eine Antenne anschloß.
    Und jetzt hatte sich alles auf einen Schlag verändert. LuAnn starrte auf die Telefonnummer, während der Bus über die holprige Straße fuhr und sie und Lisa zurück zu dem Feldweg brachte, der zum dreckigen Wohnwagen führte, in dem Duane Harvey die Zeit totschlug und mit zweifellos selten mieser Laune auf ihre Rückkehr wartete. Er würde Geld für Bier verlangen. LuAnns Miene hellte sich auf, als sie an die beiden Dollarscheine in der Handtasche dachte. Mr. Jackson hatte ihr jetzt schon etwas Gutes getan. Wenn Duane erst verschwunden war, konnte sie in Ruhe alles überdenken. Das war wenigstens ein Anfang. Heute abend fand im Squat and Gobble, Duanes Lieblingskneipe, einer dieser Saufabende statt, an denen man für einen Dollar immer wieder den Bierkrug nachgefüllt bekam. Für zwei Dollar konnte Duane sich fröhlich bis zur Besinnungslosigkeit vollaufen lassen.
    LuAnne blickte durchs Fenster auf die Welt, die aus dem Winterschlaf erwachte. Der Frühling war gekommen. Ein neuer Anfang. Vielleicht auch für sie? Die Entscheidung mußte vor übermorgen zehn Uhr fallen.
    LuAnnes und Lisas Blicke trafen sich. Mutter und Tochter lächelten sich liebevoll an. Sanft legte LuAnn den Kopf auf Lisas Brust. Sie wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Am liebsten hätte sie beides getan.

KAPITEL 5

    Die rostige Fliegengittertür quietschte, als LuAnn, Lisa auf dem Arm, den Wohnwagen betrat. Drinnen war es dunkel, kühl und still. Möglich, daß Duane noch schlief. Trotzdem hielt sie Augen und Ohren offen. Nichts rührte sich.
    Solange Duane sie nicht hinterrücks überfiel, hatte sie keine Angst vor ihm. In einem offenen Kampf war sie ihm keineswegs unterlegen. Sie hatte ihm schon mehrmals eine kräftige Abreibung verpaßt, wenn er stinkbesoffen nach Hause gekommen war. Duane riskierte normalerweise keine allzu große Lippe, wenn er halbwegs nüchtern war, und diesen Zustand – weiter kam er ohnehin nie – mußte er inzwischen erreicht haben. Es war eine seltsame Beziehung mit einem Mann, der eigentlich ihr »Lebensgefährte« hätte sein müssen. Doch LuAnn hätte zehn andere Frauen nennen können, die sich ähnlich arrangiert hatten – aus rein wirtschaftlichen Gründen, aus Mangel an Möglichkeiten, im Grund aber aus Trägheit, jedoch keineswegs aufgrund irgendwelcher zärtlicher Gefühle. LuAnn hatte andere Angebote gehabt. Aber das Gras war selten grüner auf der anderen Seite des Zaunes; das wußte sie aus eigener Erfahrung.
    Als sie im Schlafzimmer Schnarchlaute hörte, ging sie schneller durch den engen Gang. Sie steckte den Kopf in den kleinen Raum. Dann holte sie tief Luft, als sie die beiden Gestalten unter der Bettdecke sah. Duanes Kopf schaute zur rechten Seite

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