Die Versuchung
Wenn Johnny Jarvis es geschafft hatte, hatte sie auch das Zeug dazu. Und Mister Jackson konnte sich jemand anderen suchen, der »mit Freuden« ihren Platz einnehmen würde.
All diese Antworten auf die Probleme in ihrem Leben waren so schnell auf LuAnn eingestürmt, daß sie das Gefühl hatte, der Kopf würde ihr vor Erleichterung platzen. Ihre Mutter hatte zu ihr gesprochen, wenn auch vielleicht auf verschlungenen Pfaden, doch die Magie hatte gewirkt. »Vergiß niemals die lieben Verstorbenen, Lisa«, flüsterte LuAnn ihrer kleinen Tochter ins Ohr. »Man kann nie wissen.«
Vor dem Wohnwagen verlangsamte LuAnn ihre Schritte. Gestern hatte Duane noch im Geld geschwommen. Wieviel mochte er zurückgelassen haben? Er war sehr schnell damit bei der Hand, in seiner Stammkneipe eine Runde nach der anderen zu geben, wenn er ein paar Dollar in der Tasche hatte. Gott allein wußte, was er mit dem Geld unter der Matratze angestellt hatte. Wie er an die Dollars gekommen war, wollte LuAnn gar nicht erst wissen. Für sie war es nur ein Grund mehr, so schnell wie möglich zu verschwinden.
Als sie um die Straßenbiegung kam, flatterte ein Schwarm Stare aus den Bäumen über ihr auf und erschreckte sie. Für einen Moment blickte sie verärgert zu den Vögeln hinauf und ging dann weiter. Endlich kam der Wohnwagen in Sicht – und LuAnn blieb wie angewurzelt stehen. Ein Auto parkte davor. Ein Buick-Cabriolet, ein Riesenschlitten, schwarz glänzend und mit Weißwandreifen. Auf dem Kühler befand sich eine Figur, die aus der Entfernung wie eine Frau bei irgendeiner obszönen sexuellen Betätigung aussah. Duane fuhr einen alten klapprigen Ford-Pickup, den LuAnn zum letztenmal auf dem Abstellplatz für beschlagnahmte Wagen gesehen hatte. Auch keiner von Duanes Saufkumpanen fuhr einen so tollen Schlitten. Was, um alles auf der Welt, ging da vor sich? Hatte Duane völlig den Verstand verloren und dieses Schiff gekauft?
Vorsichtig ging LuAnn zum Buick und betrachtete ihn näher, ließ dabei den Wohnwagen nicht aus den Augen. Die weißen Ledersitze waren mit burgunderfarbenen Applikationen verziert. Das Wageninnere war makellos. Das Armaturenbrett war so glänzend poliert, daß man geblendet wurde, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Auf den Vorder- und Rücksitzen gab es nichts, das einen Hinweis auf den Besitzer des Wagens hätte liefern können. Die Schlüssel steckten im Zündschloß. Am Ring hing eine winzige Bierdose. Das Mobiltelefon steckte in einer speziellen Halterung neben dem Fahrersitz.
Vielleicht gehörte der Wagen tatsächlich Duane. Aber nein, um diesen Schlitten zu kaufen, hätte das Geld unter der Matratze nie und nimmer gereicht.
Rasch stieg LuAnn die Stufen hinauf und lauschte erst einmal auf Geräusche im Inneren des Wohnwagens. Als sie nichts hörte, faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür. Sie hatte Duane beim letztenmal in die Eier getreten. Sie konnte es noch einmal tun.
»Duane?« Sie knallte die Tür zu. »Duane! Was, zum Teufel, hast du getan? Gehört der Schlitten da draußen dir?« Immer noch keine Antwort. LuAnn legte die quengelnde Lisa in die Babytasche und ging durch den Wohnwagen. »Duane, bist du da? Komm schon, antworte bitte, ja? Ich hab’ keine Zeit für dumme Spielchen.«
Sie ging ins Schlafzimmer. Dort war er nicht. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. In Sekundenschnelle hatte sie die Schnur herausgezogen und die Uhr in eine Reisetasche gesteckt. Dieses Erinnerungsstück würde sie nicht Duane überlassen. Sie verließ das Schlafzimmer. Auf dem Gang beruhigte sie Lisa und stellte die Reisetasche neben der Kleinen ab.
Dann sah sie Duane. Er lag auf der zerschlissenen Couch. Der Fernseher lief, doch der Ton war abgestellt. Auf dem Couchtisch stand ein kleiner Eimer aus Pappe mit dicken Fettflecken und gebratenen Hühnerflügeln. LuAnn war sicher, daß die Bierdose daneben leer war. Sie hatte keine Ahnung, ob es die Reste von Duanes Frühstück oder von seinem gestrigen Abendessen waren.
»He, Duane, hast du mich nicht gehört?«
Langsam, ganz langsam, drehte er den Kopf in LuAnns Richtung. Wut stieg in ihr auf. Er war immer noch besoffen. »Duane, wirst du nie erwachsen?« Sie trat einen Schritt vor. »Wir müssen miteinander reden. Und was ich zu sagen habe, wird dir ganz und gar nicht gefallen, aber das ist mir scheißegal, weil …«
In diesem Augenblick legte sich eine große Hand auf ihren Mund, um sie am Schreien zu hindern. Gleichzeitig preßte ihr jemand die Arme an den Leib.
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