Die Versuchung
ein. Sie schaute auf ihre Finger hinunter, die so heftig zitterten, daß sie die Hand nicht einmal zur Faust ballen konnte. Und sie waren voller Blut – wahrscheinlich nicht ihr eigenes.
Plötzlich wurde LuAnn klar, wie rasch sie in diese Sache verwickelt werden konnte. Auch wenn der Hüne aufzustehen versucht hatte – vielleicht war der Bursche ja wieder umgekippt und lag jetzt tot im Wohnwagen. Dann hätte sie ihn in Notwehr getötet. Sie wußte es, aber würde man ihr glauben?
Ein Drogendealer. Und sie fuhr seinen Wagen!
Bei diesem Gedanken schaute LuAnn sich um, ob jemand sie beobachtete. Mehrere Wagen kamen ihr entgegen. Das Dach! Sie mußte das Faltdach schließen. Sie kletterte auf die Rückbank und packte den steifen Stoff, zerrte daran, und dann senkte sich das große weiße Cabrio-Verdeck über ihr und Lisa, als würde eine Muschel sich schließen. LuAnn sprang wieder in den Fahrersitz, drückte auf die Schnappverschlüsse des Faltdachs, lenkte den Wagen wieder auf die Straße und fuhr weiter in Richtung Stadt.
Ob die Polizei ihr glauben würde, daß sie nichts von Duanes Drogengeschäften gewußt hatte? Er hatte es irgendwie geschafft, die Wahrheit vor ihr zu verbergen, aber wer würde ihr das glauben? Sie konnte es ja selbst kaum glauben.
Alle diese Gedanken stürmten über sie hinweg wie eine Feuersbrunst, die durch ein Haus aus Papier raste; es schien keinen Ausweg zu geben, kein Entrinnen. Oder vielleicht doch?
Beinahe hätte LuAnn voller Verzweiflung aufgeschrien, als ihr der Gedanke kam. Für einen Moment erschien das Gesicht ihrer Mutter vor LuAnns geistigem Auge. Mit unglaublicher Willensanstrengung verscheuchte sie es. »Tut mir leid, Mom. Mir bleibt keine andere Wahl.« Sie mußte es tun. Sie mußte Jackson anrufen.
In diesem Augenblick fiel ihr Blick aufs Armaturenbrett. Für einige Sekunden stockte ihr der Atem. Sie hatte das Gefühl, daß jeder Blutstropfen aus ihrem Körper geströmt sei, als ihre Augen starr auf die schimmernde Uhr gerichtet blieben.
Es war fünf Minuten nach zehn.
Vorbei. Für immer. Das hatte Jackson gesagt, und LuAnn zweifelte keine Sekunde daran, daß er es ernst gemeint hatte. Sie fuhr an den Straßenrand und sank verzweifelt über dem Lenkrad zusammen. Was sollte aus Lisa werden, wenn sie im Gefängnis saß? Dummer, dummer Duane. Erst hatte er ihr Leben versaut, und jetzt schadete er ihr auch noch im Tod.
Langsam hob LuAnn den Kopf und blickte über die Straße. Sie rieb sich die Augen, um deutlich zu sehen. Ein niedriger, fester Ziegelbau – eine Bankfiliale. Hätte sie eine Waffe gehabt, hätte sie ernsthaft überlegt, die Bank zu überfallen. Aber nicht einmal das war möglich. Es war Sonntag, und die Bank war geschlossen. Während LuAnns Blicke über die Fassade schweiften, schlug ihr Herz plötzlich wie wild. Die Veränderung kam so unvermittelt, als hätte sie Drogen genommen.
Die Uhr der Bank zeigte vier Minuten vor zehn an.
Banker galten als verläßliche Menschen. LuAnn hoffte, daß man sich auf ihre Uhren ebenso verlassen konnte. Sie griff nach dem Autotelefon und suchte in der Tasche hektisch nach dem Zettel mit der Nummer. Sie schien nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Bewegungen zu koordinieren. Nur mit Mühe konnte sie die Finger zwingen, die Tasten des Telefons zu drücken. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis das Klingelzeichen ertönte. Zum Glück läutete es nur ein einziges Mal, ehe der Teilnehmer antwortete, sonst hätte LuAnn vollends die Nerven verloren.
»So langsam habe ich schon an Ihnen gezweifelt, LuAnn«, sagte Jackson. Sie konnte beinahe sehen, wie er auf die Armbanduhr blickte. Wahrscheinlich konnte er es nicht fassen, daß sie sich buchstäblich in letzter Sekunde gemeldet hatte.
Sie zwang sich, normal zu atmen. »Ich hatte furchtbar viel um die Ohren. Da ist mir die Zeit … irgendwie durch die Finger gerutscht.«
»Ihre lockere Haltung ist zwar sehr erfrischend, aber offen gesagt bin ich doch etwas erstaunt.«
»Wie sieht’s denn nun aus?«
»Vergessen Sie nicht etwas?«
LuAnn machte ein verdutztes Gesicht. »Was denn?« Ihr Verstand war einem Kurzschluß nahe. Ihr Arm tat weh, ja, ihr ganzer Körper schmerzte höllisch. O Gott, wenn alles doch bloß nur ein Witz war …?
»Ich habe Ihnen ein Angebot unterbreitet, LuAnn. Doch für eine gültige Übereinkunft brauche ich Ihre Einwilligung. Wahrscheinlich nur reine Formsache, aber ich muß leider darauf bestehen.«
»Einverstanden.«
»Großartig. Ich kann Ihnen
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