Die Versuchung
Ab, hatten die Götter ihr zugelächelt. Aus Milliarden von Menschen war LuAnn Tyler als Gewinnerin des Jackpots gezogen worden.
So eine Chance würde sich ihr nie wieder bieten, davon war sie felsenfest überzeugt. Und sie war sicher, daß die anderen Gewinner, über die sie in der Zeitung gelesen hatte, einen ähnlichen Telefonanruf gemacht hatten. Sie hatte nichts davon gelesen, daß einer von ihnen Schwierigkeiten bekommen hätte. So eine Meldung hätte überall Schlagzeilen gemacht, auf alle Fälle in der armen Gegend, in der LuAnn lebte, wo jeder in der verzweifelten Hoffnung Lotterie spielte, das bittere Los eines Habenichts abwerfen zu können. Doch irgendwann, nachdem sie die Kneipe verlassen hatte und bevor sie in den Bus gestiegen war, hatte LuAnn tief im Inneren irgend etwas gespürt, das sie daran hinderte, zum Telefon zu greifen. Statt dessen war sie eine Haltestelle eher ausgestiegen, um Rat bei jemand anderem als bei sich selbst zu suchen.
LuAnn kam oft hierher, um zu reden, um Blumen zu bringen, die sie gepflückt hatte, oder um die letzte Ruhestätte der Mutter zu pflegen. In der Vergangenheit hatte sie oft den Eindruck gehabt, tatsächlich mit Joy in Verbindung zu stehen. Sie hatte nie Stimmen gehört; es war mehr auf der Ebene des Fühlens, Empfindens. Hier, am Grab, war LuAnn zuweilen von Euphorie oder tiefer Traurigkeit überfallen worden, was sie sich schließlich damit erklärt hatte, daß die Mutter ihre Meinung kund tat, indem sie in den Körper und die Gedanken ihrer Tochter schlüpfte und sich zu deren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen äußerte. LuAnn wußte, daß Ärzte sie wahrscheinlich für verrückt erklären würden, aber das änderte nichts daran, daß sie eine Verbindung zur Mutter fühlte.
Und nun erhoffte sie sich irgendein Zeichen, mit dem Joy ihr sagte, was sie tun solle. Joy hatte sie gut erzogen. LuAnn hatte nie gelogen, bis sie neunzehn wurde und zu Duane gezogen war. Von da an schienen die Lügen einfach … zu geschehen, schienen ein unausrottbarer Bestandteil des nackten Überlebenskampfes zu sein. Doch nie im Leben hatte LuAnn etwas gestohlen oder bewußt irgend etwas Unrechtes getan. Trotz der Schicksalsschläge der letzten Jahre hatte sie sich stets ihre Würde und Selbstachtung bewahrt. Das war ein gutes Gefühl. Es half ihr, aufzustehen und sich den Mühen des nächsten Tages zu stellen, obgleich dieser Tag wenig Hoffnung verhieß, daß der nächste Tag irgendwie anderes werden würde, irgendwie besser.
Doch heute geschah nichts. Der laute Rasenmäher kam näher, und auf der Straße wurde der Verkehr dichter. LuAnn schlug die Augen auf und seufzte. Es klappte nicht. Offenbar war die Mutter nicht jeden Tag erreichbar.
LuAnn stand auf und wollte schon gehen, als sie plötzlich eine überwältigend starke Empfindung verspürte. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihre Blicke schweiften wie von selbst zu einem anderen Abschnitt des Friedhofs, zu einer Grabstelle, die fast fünfhundert Meter weiter weg war. Irgend etwas zog sie dorthin, und LuAnn wußte, was es war. Ihre Beine schienen sich von allein zu bewegen, als sie mit weit aufgerissenen Augen über den schmalen, geteerten Weg ging. Sie drückte Lisa fest an ihre Brust, als befürchtete sie, das kleine Mädchen könnte von der unsichtbaren Kraft fortgerissen werden, die LuAnn in ihr Epizentrum zog.
Der Himmel schien sich auf gespenstische Weise zu verdunkeln, je näher sie dem Grab kam. Der Rasenmäher war verstummt, und auf der Straße war der Verkehr völlig erstorben. Das einzige Geräusch stammte von Wind, der über den kurz geschnittenen Rasen flüsterte und um die verwitterten, stummen Gedenksteine der Toten pfiff. LuAnns Haar wurde nach hinten geweht, als sie schließlich stehenblieb und den Blick senkte.
Die bronzene Grabplatte war ähnlich wie die ihrer Mutter. Und der Nachname war derselbe: Tyler. Benjamin Herbert Tyler.
LuAnn hatte dieses Grab nicht besucht, seit ihr Vater gestorben war. Bei der Beerdigung war sie erst vierzehn gewesen und hatte krampfhaft die Hand der Mutter festgehalten. Beide Frauen hatten keine Trauer empfunden, nicht im geringsten, mußten aber der vielen Freunde und der Familie des Verstorbenen wegen die angemessene Trauermiene aufsetzen.
Das Leben spielte seltsame Streiche. Benny Tyler war beinahe allseits beliebt gewesen, nur nicht in der eigenen Familie, weil er großzügig und herzlich gewesen war, nur nicht in der eigenen Familie.
Als LuAnn jetzt seinen Namen im Metall
Weitere Kostenlose Bücher