Die Versuchung
Brust hing aus dem Büstenhalter heraus. Langsam setzte sie sich auf und stützte sich auf dem unverletzten Arm ab. Dann strich sie über die Schnittwunde am Kinn. Es tat scheußlich weh. Langsam stand sie auf. Sie konnte kaum atmen. Der Nachhall der Todesangst und die Verletzungen bereiteten ihr seelische und körperliche Schmerzen.
Die beiden Männer lagen Seite an Seite. Der Hüne atmete noch. Man konnte es deutlich sehen, weil seine Brust sich hob und senkte. Was Duane betraf, war LuAnn nicht sicher. Sie kniete bei ihm nieder, um seinen Puls zu fühlen, doch falls sein Herz noch schlug, konnte sie es nicht spüren. Sein Gesicht sah grau aus, doch im Dämmerlicht war alles nur undeutlich zu erkennen.
LuAnn knipste eine Lampe an, doch sie brachte nicht viel Helligkeit. Wieder kniete sie neben Duane nieder, berührte zaghaft seine Brust. Dann hob sie sein Hemd. Rasch zog sie es wieder nach unten. Beim Anblick des vielen Blutes wurde ihr übel. »O Gott, Duane, was hast du bloß getan! Duane, kannst du mich hören? Duane!«
Trotz des schummrigen Lichts sah sie, daß kein Blut mehr aus Duanes Wunden strömte – ein Anzeichen dafür, daß das Herz nicht mehr schlug. LuAnn packte einen Arm Duanes. Er war noch warm, doch die Finger krümmten sich bereits und wurden kalt.
LuAnn betrachtete das zerschmetterte Telefon. Sie hatte keine Möglichkeit, einen Rettungswagen zu rufen. Allerdings sah es auch nicht so aus, als würde Duane noch einen Arzt brauchen. Am besten, sagte sich LuAnn, laufe ich los und verständige die Polizei. Vielleicht würde sie dann auch erfahren, wer der Fremde war, warum er Duane erstochen und versucht hatte, auch sie umzubringen.
Als LuAnn sich schwerfällig erhob, um sich auf den Weg zu machen, fiel ihr das Häufchen Tüten auf, das hinter dem fettigen Pappeimer mit den Hühnerflügeln gelegen hatte und beim Kampf offenbar vom Tisch gefallen waren. Die Plastiktüten waren durchsichtig, und in jeder war eine kleine Menge weißes Pulver. Drogen.
In diesem Moment hörte LuAnn das klägliche Wimmern. O Gott, wo war Lisa? Dann war da noch ein Geräusch. LuAnn stockte der Atem. Sie drehte sich ruckartig um und sah, wie die Hand des riesigen Mannes sich bewegte. Er wollte aufstehen. Er wollte wieder auf sie los! Lieber Gott, er wollte sie umbringen! LuAnn ließ die Tüte fallen und rannte auf den Gang. Mit dem unverletzten Arm ergriff sie die Tasche mit Lisa. Die Kleine fing an zu schreien, als sie die Mutter sah. Dann stürmte LuAnn durch die Vordertür, knallte sie gegen die Außenwand des Wohnwagens. Sie rannte am Buick vorbei, blieb dann stehen und ging zurück.
Der Hüne, den sie mit dem Telefon niedergeschlagen hatte, kam nicht aus dem Wohnwagen gestürmt. Jedenfalls noch nicht. LuAnns Blicke schweiften zu dem Auto. Die Schlüssel glänzten verführerisch im Sonnenlicht. Sie zauderte nur einen Sekundenbruchteil, dann war sie mit Lisa im Wagen, ließ den Motor an und trat aufs Gaspedal. Der Schlitten schlingerte durch den Schlamm bis zur Hauptstraße. Vor der Abbiegung hielt LuAnn kurz an, um ihre flatternden Nerven unter Kontrolle zu bekommen, ehe sie in Richtung Stadt weiterfuhr.
Jetzt ergab Duanes plötzlicher Reichtum einen Sinn. Der Verkauf von Drogen war offensichtlich sehr viel einträglicher, als Autos auszuschlachten, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber Duane war offenbar zu geldgierig geworden und hatte ein bißchen zu viel von den Drogen oder dem Geld für sich behalten. Dieser blöde Hund! Ja, sie mußte die Polizei rufen. Auch wenn Duane seine Rettung – falls er noch lebte, was LuAnn bezweifelte – mit einem längeren Aufenthalt im Knast bezahlen mußte. Doch wenn er tatsächlich noch lebte, konnte sie ihn nicht einfach sterben lassen. Der andere Kerl war LuAnn völlig egal. Sie wünschte nur, sie hätte ihn schlimmer verletzt.
Während sie den Wagen beschleunigte, blickte sie auf Lisa. Die Kleine saß mit großen Augen in der Babytasche. Sie hatte sich furchtbar erschreckt. Ihre Lippen und Wangen zitterten. LuAnn legte den verletzten Arm um ihre Tochter. Sie mußte die Lippen zusammenpressen, weil schon diese kleine Bewegung ihr sehr weh getan hatte. Ihr Hals fühlte sich an, als wäre ein Auto darübergefahren. Mit einem Mal leuchteten ihre Augen auf. Sie blickte auf das Mobiltelefon. Sofort hielt sie an und nahm es aus der Halterung.
Nachdem sie rasch nachgeschaut hatte, wie das Ding funktionierte, wählte sie die 911, hängte den Hörer dann aber sofort wieder
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