Die Versuchung
eingeritzt sah, holte sie tief Luft. Es sah aus, als wäre die Platte an einer Bürotür befestigt, und man würde sie gleich ins Zimmer führen, um mit dem Mann zu sprechen.
Sie wich ein wenig vom Grab zurück, um den scharfen Stichen zu entgehen, die sie bei jedem Schritt tiefer getroffen hatten, als sie sich den sterblichen Überresten des Vaters näherte. Und plötzlich überfiel sie jenes intensive Gefühl, das sich beim Grab ihrer Mutter nicht eingestellt hatte. Ausgerechnet hier. Beinahe konnte sie die Fetzen eines hauchdünnen Schleiers über dem Grab wirbeln sehen, als würde der Wind ein Spinnennetz dahintreiben.
LuAnn fuhr herum und rannte los. Selbst mit Lisa auf dem Arm entwickelte sie nach drei Anlaufschritten ein Sprinttempo, daß jeder Olympiateilnehmer vor Neid erblaßt wäre.
Am Grab des Vaters hatte LuAnn die Augen nicht so fest wie ein Vögelchen geschlossen. Sie hatte nicht einmal besonders angestrengt gelauscht. Und trotzdem waren die Worte des toten Benny Tyler aus Tiefen heraufgedrungen, die LuAnn sich gar nicht vorstellen konnte, und hatten sich mit brutaler Gewalt in die Ohren seines einzigen Kindes gebohrt.
Nimm das Geld, meine Kleine. Hör auf Daddy. Nimm es, und scheiß auf alles und alle anderen. Hör auf mich. Benutze dein bißchen Verstand. Wenn der Körper vergeht, hast du nichts mehr. Nichts! Wann habe ich dich je angelogen, meine Süße? Nimm es! Verdammt noch mal, nimm es, du dämliches Luder! Daddy liebt dich. Tu es für Big Daddy. Du willst es doch selbst.
Im Laufschritt preßte LuAnn die Babytasche mit Lisa an sich und flitzte durchs Tor des Friedhofs. Der Mann auf dem Rasenmäher hielt an und schaute ihr nach, wie sie unter dem unwahrscheinlich blauen Himmel dahinrannte, der darum bettelte, fotografiert zu werden. Jetzt herrschte wieder ziemlich starker Verkehr auf der Straße. Alle Geräusche des Lebens, die während der wenigen Augenblicke für LuAnn auf so unerklärliche Weise verstummt waren, erklangen nun wieder.
Der Mann auf dem Rasenmäher blickte zu dem Grab, von dem LuAnn geflüchtet war. Auf einem Friedhof kriegen es manche Leute sogar bei hellem Tageslicht mit der Angst zu tun, dachte er und mähte weiter.
LuAnn war schon nicht mehr zu sehen.
Der Wind trieb die beiden den langen Feldweg hinab. LuAnns Gesicht war schweißüberströmt. Die Sonne traf sie durch Lücken im Laub. Ihre langen Beine verschlangen Meter um Meter, bewegten sich mit der Regelmäßigkeit einer Maschine und zugleich mit der Anmut einer Gazelle.
In ihrer Jugend hatte LuAnn schneller laufen können als fast alle Leute im County, einschließlich der meisten Auswahlspieler des schuleigenen Footballteams. In der siebten Klasse hatte der Sportlehrer ihr gesagt, diese außergewöhnliche Schnelligkeit sei eine Gabe Gottes. Doch niemand hatte ihr gesagt, was sie mit dieser Gabe anfangen sollte. Für die dreizehnjährige LuAnn, ein Mädchen mit dem Körper einer Frau, hatte Schnelligkeit lediglich bedeutet, daß sie einem Jungen vielleicht davonlaufen konnte, wenn er sie betatschen wollte und zu groß und stark war, als daß sie ihn verprügeln konnte.
Nun aber brannte es in ihrer Brust. Für einen Augenblick fragte sie sich, ob sie mit einem Herzinfarkt zusammenbrechen würde wie ihr Vater. Vielleicht trugen die Nachkommen dieses Mannes irgendeine angeborene körperliche Schwäche im Inneren, die nur darauf wartete, hervorzubrechen und den nächsten Tyler aus den Reihen der Lebenden zu holen. Sie wurde langsamer. Lisa weinte.
Schließlich blieb LuAnn stehen und schloß ihre Kleine fest in die Arme. Dabei flüsterte sie ihr zärtliche, beschwichtigende Worte ins Ohr. Langsam schritt LuAnn im Schatten der Bäume im Kreis herum, bis Lisa zu weinen aufhörte.
Den Rest des Heimwegs ging LuAnn mit langsamen Schritten. Die Worte Benny Tylers hatten die Entscheidung gebracht. Sie würde jetzt im Wohnwagen das Nötigste packen und später irgend jemanden schicken, um den Rest zu holen. Eine Zeitlang konnte sie bei Beth wohnen. Beth hatte es ihr schon mehrmals angeboten. Ihr Haus war eine ziemliche Bruchbude, besaß aber viele Zimmer, und nach dem Tod ihres Mannes waren zwei Katzen ihre einzigen Freunde und noch verrückter als sie selbst, wie Beth beteuerte. Und dann würde LuAnn aufs Community College gehen. Falls nötig, würde sie Lisa mit ins Klassenzimmer nehmen; aber sie war fest entschlossen, den Schulabschluß zu machen und anschließend vielleicht Computerkurse auf dem College zu belegen.
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