Die Versuchung
LuAnn? Seine ruhige, kühle Stimme klang verlockend. Und ständig hallten diese beiden Sätze in LuAnns Kopf wider. Sie hatte das Gefühl, über die imaginäre Mauer eines Staudamms zu laufen. Was erwartete sie im tiefen Wasser dort unten? Sie wußte es nicht. Diese Ungewißheit machte ihr angst, zog sie aber auch magisch an.
Sie betrachtete Lisa. Sie konnte das Bild nicht abschütteln, wie ihre Tochter in einem Wohnwagen zur Frau heranwuchs, ohne eine Chance zu haben, vor den jungen Wölfen zu fliehen, die diese jämmerliche Behausung umkreisten.
»Was ’n los, Süße?«
LuAnn zuckte zusammen. Sie drehte sich um und schaute in Beths Gesicht. Die ältere Frau balancierte gekonnt volle Teller mit beiden Händen.
»Nicht viel. Ich zähle nur meine Sternstunden«, antwortete LuAnn.
Beth grinste und warf einen Blick auf den Stenoblock. LuAnn klappte ihn rasch zu. »Na schön. Aber vergiß die kleinen Leute nicht, wenn du auf ’ne Goldmine stößt, Miss LuAnn Tyler.« Beth kicherte und brachte den wartenden Gästen das Essen.
LuAnn lächelte unsicher. »Das werde ich nicht, Beth. Ich schwör’s«, sagte sie leise.
KAPITEL 7
Es war acht Uhr morgens und DER TAG. LuAnn stieg mit Lisa aus dem Bus. Es war nicht die übliche Haltestelle, aber nahe genug, um von hier aus zu Fuß in einer halben Stunde beim Wohnwagen zu sein, was für LuAnn kein Problem darstellte. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel war jetzt strahlend blau und die Erde üppig grün. Vögel sangen in Scharen den Lobpreis für den Jahreszeitenwechsel und den Abschied von einem langen, beschwerlichen Winter. Wohin LuAnn auch schaute, überall sproß frisches Grün unter der gerade aufgegangenen Sonne. LuAnn liebte diese Tageszeit. Es war still, voller Ruhe ringsum, und sie schöpfte Hoffnung für die Zukunft.
LuAnn blickte nach vorn auf die sanft wogenden Felder. Langsam schritt sie durch den Torbogen und an dem mit Grünspan bedeckten Schild vorüber, das den Eingang zum Heavenly-Meadow-Friedhof kennzeichnete. Ihre langen, schlanken Beine trugen sie wie von selbst zu Bereich 14, Platz 21, Grab 6. Die Stelle befand sich auf einer Anhöhe im Schatten alter Hartriegelbüsche, die bald schon ihre einzigartige Pracht entfalten würden.
LuAnn legte Lisa in ihrer Babytasche auf die Steinbank am Grab ihrer Mutter und nahm das kleine Mädchen heraus. Dann kniete sie sich ins taunasse Gras und entfernte Zweige und Erde von der bronzenen Grabplatte.
LuAnns Mutter Joy hatte nicht sehr lange gelebt: siebenundvierzig Jahre. Für Joy Tyler hatte das Leben nur kurze Zeit und zugleich eine Ewigkeit gedauert, das wußte LuAnn. Sie war fest davon überzeugt, daß die schwierigen, unerfreulichen Jahre mit Benny den Tod ihrer Mutter beschleunigt hatten.
»Erinnerst du dich, Lisa? Hier ist jetzt deine Grandma. Wir waren ziemlich lange nicht mehr hier, weil das Wetter so schlecht war. Aber jetzt ist der Frühling gekommen, und es wird Zeit, daß wir sie wieder besuchen.« LuAnn hielt die Tochter hoch und zeigte mit dem Finger auf die Grabplatte. »Genau hier schläft sie jetzt. Aber immer wenn wir herkommen, wacht sie ein bißchen auf. Sie kann nicht mit uns sprechen, aber wenn du die Augen so fest zumachst wie ein kleiner Vogel und genau hinhörst, ganz genau, kannst du sie irgendwie hören. Dann sagt sie dir, was sie über alles denkt.«
Nach diesen Worten setzte LuAnn sich auf die Bank und nahm Lisa auf den Schoß. Es war ein kühler Morgen, und die Kleine war dick angezogen und noch schläfrig. Für gewöhnlich brauchte Lisa eine Zeitlang, um richtig wach zu werden. Doch war sie es erst einmal, blieb sie mehrere Stunden in Bewegung oder plapperte unablässig. Der Friedhof war verlassen, abgesehen von einem Arbeiter, den LuAnn in der Ferne Rasen mähen sah. Das Motorengeräusch der kleinen Fahrmaschine drang nicht bis zu ihr. Auch auf der Straße fuhren wenig Autos. Die Stille war friedvoll, und LuAnn machte die Augen so fest zu wie ein kleines Vögelchen und lauschte, so angestrengt sie konnte.
In der Fernfahrerkneipe hatte sie beschlossen, Jackson gleich nach Feierabend anzurufen. Er hatte gesagt, sie könne ihn jederzeit erreichen, und LuAnn war sicher, er würde nach dem ersten Klingeln den Hörer abnehmen, ganz gleich, wieviel Uhr es wäre. Es war ihr wie die leichteste Sache der Welt vorgekommen, ja zu sagen. Und die klügste. Jetzt war sie an der Reihe. Nach zwanzig Jahren voller Traurigkeit, Enttäuschungen und tiefer Verzweiflung, diesem ewigen Auf und
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