Die Versuchung
hatte die schlechten Eigenschaften des Vaters geerbt und erwartete infolgedessen, daß die Welt ihm das Beste in den Schoß legte, ohne daß er der Welt etwas vergleichbar Wertvolles zurückgeben müßte. Jackson hatte dem Bruder genug Geld gegeben, daß dieser ein sorgenfreies, aber keineswegs luxuriöses Leben führen konnte. Verschleuderte er das Geld, würde es keines mehr geben. Für den Bruder war die Quelle versiegt.
Bei seiner Schwester sah die Sache anders aus. Jackson hing sehr an ihr, obwohl sie den Vater mit jenem blinden Vertrauen verehrt hatte, mit dem eine Tochter oft am Vater hing. Jackson hatte ihr ein Leben in großem Stil ermöglicht, sie jedoch nie besucht. Er stand unter zu großem Zeitdruck. Einen Abend verbrachte er in Hongkong, den nächsten vielleicht in London. Außerdem hätten Besuche bei der Schwester unweigerlich zu Gesprächen geführt, und er wollte sie nicht belügen, auf welche Weise er seinen Lebensunterhalt verdient hatte – und weiterhin verdiente. Sie konnte ihr Leben in Luxus und Unwissenheit verbringen – und auf der Suche nach einem Mann, der ihr den Vater ersetzte, den sie für so gütig und edel hielt.
Was die Familie betraf, hatte Jackson sich richtig verhalten. Er brauchte sich deshalb nicht zu schämen oder gar Gewissensbisse zu verspüren. Er war nicht sein Vater, dem er nur eine einzige bleibende Erinnerung zugestand: Jackson – den Namen, den er bei all seinen Transaktionen benutzte. Sein Vater hatte Jack geheißen. Und ganz gleich, was Jackson auch tat, er würde immer Jacks Sohn sein.
Er blieb vor einem Fenster stehen und blickte hinaus auf einen prachtvollen Abendhimmel über New York. Die Wohnung, in der Jackson jetzt lebte, war dieselbe, in der er aufgewachsen war. Allerdings hatte er sie vollkommen verändert und umgebaut, nachdem er sie gekauft hatte. Vorgeblicher Grund waren die Modernisierung gewesen und die Notwendigkeit, alles nach seinen eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Doch der eigentliche, tiefere Beweggrund war der Wunsch gewesen, die Vergangenheit soweit wie möglich auszulöschen.
Dieser Wunsch erstreckte sich beileibe nicht allein auf die Einrichtung der Wohnung: Jedesmal, wenn Jackson sich verkleidete, legte er eine Schicht über sein wahres Ich und verbarg darunter die Person, die sein Vater nie der Achtung oder Liebe für würdig gehalten hatte. Allerdings ließen sich diese Schmerzen nie vollständig ausmerzen, solange Jackson lebte und solange er sich an die Vergangenheit erinnern konnte. Die Wahrheit sah so aus, daß jeder Winkel dieser Wohnung ihm jederzeit schmerzliche Erinnerungen bringen konnte. Doch seit geraumer Zeit war er zu der Einsicht gelangt, daß das gar nicht so schlimm war. Schmerz war ein wunderbar motivierendes Instrument.
Jackson betrat und verließ sein Penthouse mittels eines privaten Aufzugs. Unter gar keinen Umständen durfte jemand die Wohnung betreten. Die Post und andere Lieferungen wurden beim Portier abgegeben. Doch es kamen nicht viele Sendungen. Die meisten Geschäfte wickelte Jackson telefonisch, über Computer-Modem oder per Fax ab. Er reinigte die Wohnung sogar selbst. Doch bei seinen vielen Reisen und seiner spartanischen Lebensweise war die häusliche Arbeit nicht allzu zeitaufwendig und mit Sicherheit ein geringer Preis für eine völlig ungestörte Privatsphäre.
Jackson hatte seine wahre Identität unter einer Tarnung verborgen, die er immer dann benutzte, wenn er die Wohnung verließ. Es war eine Vorsichtsmaßnahme für den schlimmsten Fall, daß die Polizei bei ihm auftauchte. Horace Parker, der betagte Portier, der Jackson jedesmal begrüßte, wenn dieser kam oder ging, war derselbe Mann, der freundlich an seine Mütze getippt hatte, als sich der scheue Junge, der Bücherwurm, vor vielen Jahren an die Hand der Mutter klammerte. Das war gewesen, bevor die Familie New York hatte verlassen müssen, weil der Vater Pech gehabt hatte und die Zeiten schwierig waren. Der gealterte Parker hatte Jacksons verändertes Aussehen schlicht der Reife zugeschrieben. Jetzt, wo dieses »falsche« Bild sich fest in den Köpfen der Menschen eingeprägt hatte, war er zuversichtlich, daß niemand ihn je identifizieren würde.
Für Jackson war es tröstlich und zugleich beunruhigend, wenn Parker ihn mit seinem richtigen Namen ansprach. Es war nicht leicht, mit so vielen Identitäten zu jonglieren, und gelegentlich merkte Jackson, daß er nicht reagierte, wenn er seinen richtigen Namen hörte. Dabei war es schön, ab
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