Die Versuchung
dem Mißerfolg unterrichtet, und damit war die Sache abgeschlossen.
Bis jetzt. Denn jetzt hatte Donovan Blut geleckt. Und seine Nase sagte ihm, daß LuAnn Tyler die USA verlassen hatte. Irgendwie war sie dem Gesetz durch die Lappen gegangen. Und die naheliegendste Erklärung war eine Flucht mit dem Flugzeug.
Auf alle Fälle engte diese Theorie die andernfalls unüberschaubare Vielzahl von Möglichkeiten ein. Donovan konnte seine Nachforschungen auf einen Tag, ja, im Grunde auf mehrere Stunden dieses Tages eingrenzen. Dabei ging er von der Voraussetzung aus, daß LuAnn Tyler aus dem Land geflüchtet war. Also würde er sich auf die internationalen Flüge konzentrieren, die vor zehn Jahren an jenem Freitag vom Kennedy-Flughafen abgegangen waren. Sollte diese Suche nichts ergeben, wollte Donovan sich die Maschinen vornehmen, die von La Guardia gestartet waren. Falls auch das ein Fehlschlag war, würde er sich die Flüge vom Newark International Airport vornehmen.
Das war schon mal ein Anfang. Es gab allerdings viel weniger internationale als inländische Flüge. Falls sich die Notwendigkeit ergab, auch die Inlandsflüge zu überprüfen, mußte Donovan sich eine andere Vorgehensweise einfallen lassen.
Während er über dieses Problem nachdachte, traf ein Päckchen von Sheriff Harvey ein.
Donovan, der gerade in seinem Büro ein Sandwich hinunterschlang, öffnete das Päckchen und sah sich die Unterlagen durch. Die Autopsiefotos waren naturgemäß gräßlich, was einem alten Hasen wie Donovan jedoch nichts ausmachte. Er hatte im Laufe seiner Karriere Schlimmeres gesehen. Nach einer Stunde legte er die Akten beseite und machte sich Notizen.
So wie es aussah, war LuAnn Tyler an den Morden unschuldig. Donovan hatte in Rikersville auf eigene Faust ein paar Nachforschungen angestellt, und allen Aussagen zufolge war Duane Harvey ein arbeitsscheuer Tagedieb gewesen, dessen größter Ehrgeiz im Leben sich darauf beschränkte, sich zu besaufen und Weiberröcken hinterherzujagen. Er hatte der Menschheit absolut nichts von Wert hinterlassen.
LuAnn Tyler dagegen hatte man Donovan als fleißig, ehrlich und als liebevolle, besorgte Mutter ihres kleinen Mädchens beschrieben. Schon als Teenager zur Waise geworden, hatte LuAnn sich so durchgeschlagen, wie es unter diesen Umständen möglich gewesen war. Donovan hatte Fotos von ihr gesehen, sogar das Video-Band der Pressekonferenz ausgegraben, auf der sie vor zehn Jahren als Lotteriegewinnerin vorgestellt worden war. Sie sah phantastisch aus, das mußte er zugeben, doch hinter dieser Schönheit steckte mehr. LuAnn hatte bestimmt nicht nur ihres guten Aussehens wegen ihr Leben gemeistert.
Donovan schluckte den letzten Bissen des Sandwiches hinunter und spülte mit Kaffee nach. Duane Harvey war übel zugerichtet. Der andere Mann, Otis Burns, war an Messerstichen in den Oberkörper gestorben. Überdies hatte er eine schwere, aber nicht tödliche Kopfverletzung und andere Kampfspuren davongetragen. LuAnns Fingerabdrücke waren auf dem zerbrochenen Telefon und überall im Wohnwagen entdeckt worden, was aber nicht weiter verwunderlich war; schließlich hatte sie in dem Wagen gelebt.
Es gab eine Zeugenaussage, derzufolge man LuAnn an jenem Morgen in Otis Burns’ Buick gesehen hatte. Trotz Sheriff Harveys gegenteiliger Behauptungen war Donovan überzeugt, daß Duane der Drogendealer der Familie gewesen war und bei einem Täuschungsversuch erwischt wurde. Wahrscheinlich war Burns sein Lieferant gewesen. Der Bursche hatte ein umfangreiches Vorstrafenregister im benachbarten Gwinnett County, und alle Verurteilungen hatten mit Drogendelikten zu tun. Wahrscheinlich war Burns zum Wohnwagen gekommen, um mit Duane eine Rechnung zu begleichen.
Die Frage, ob LuAnn Tyler etwas von Duanes Drogengeschäften gewußt hatte, war nicht zu beantworten. LuAnn hatte in einer Fernfahrerkneipe gearbeitet, bis sie das Lotterielos gekauft hatte und verschwunden war. Dann war sie nur noch einmal kurz aufgetaucht: in New York City. Falls sie von Duanes »Nebenjob« gewußt hatte, hatte sie keinen erkennbaren Nutzen daraus gezogen. Ob sie an jenem Morgen im Wohnwagen gewesen war und etwas mit dem Tod der Männer zu tun gehabt hatte, war ebenfalls ungeklärt.
Donovan hielt LuAnn nicht für die Mörderin, doch im Grunde war es auch egal. Er hatte keinen Anlaß, Mitleid für Duane Harvey oder Otis Burns zu empfinden. Welche Gefühle er LuAnn Tyler gegenüber hegte, darüber war Donovan sich an diesem Punkt noch
Weitere Kostenlose Bücher