Die Versuchung
zur Arbeit fuhr. Jackson hatte ihr gegenübergesessen, selbstverständlich verkleidet. In seinen zerrissenen Jeans, dem fleckigen Hemd, der Georgia-Bulldog-Mütze und dem struppigen Bart, der die untere Gesichtshälfte bedeckte, verschmolz er mit dem Hintergrund. Die durchdringenden Augen hatte er hinter dicken Brillengläsern verborgen. LuAnns Aussehen hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt. Sie schien hier im Süden fehl am Platz zu sein. Alle anderen wirkten so ungesund, so hoffnungslos, als würden selbst die Jüngsten bereits die Tage bis zur Beerdigung zählen. Jackson hatte LuAnn beim Spielen mit ihrer Tochter beobachtet, hatte zugehört, wie sie die Leute begrüßte und gesehen, wie deren bedrückte Stimmung sich durch LuAnns einfühlsame Bemerkungen hob.
In der Folgezeit hatte er LuAnn gründlich unter die Lupe genommen, hatte jeden Aspekt ihres Lebens erforscht – von ihrem ärmlichen Elternhaus bis hin zu dem Leben im Wohnwagen mit Duane Harvey. Jackson war sogar mehrere Male im Wohnwagen gewesen, wenn LuAnn und ihr »Lebensgefährte« nicht dort waren. Er hatte all die kleinen Zeichen gesehen, die LuAnns Bemühungen verrieten, diese Behausung trotz Duane Harveys schlampiger Art sauber und ordentlich zu halten. Und alles, was mit Lisa zu tun hatte, hielt LuAnn getrennt von allem anderen und makellos rein. Die Tochter war LuAnns Leben.
In der Verkleidung eines Fernfahrers hatte Jackson viele Abende in der Kneipe verbracht, in der LuAnn arbeitete. Er hatte sie genau beobachtet und festgestellt, wie ihre Lebensumstände zunehmend problematischer wurden, wie sie wehmütig in die Augen ihrer kleinen Tochter geschaut und von einem besseren Leben geträumt hatte. Und dann, nach all diesen Beobachtungen, hatte Jackson sie als eine der Glücklichen auserkoren. Vor zehn Jahren.
Und seit zehn Jahren hatte er LuAnn weder gesehen noch gesprochen. Doch es verging kaum eine Woche, in der er nicht an sie dachte. Anfangs hatte er ihre Reisen aufmerksam verfolgt, doch als die Jahre verstrichen und LuAnn – seinen Wünschen gemäß – von einem Land ins nächste gezogen war, hatte sein Eifer beträchtlich nachgelassen. Jetzt war LuAnn praktisch von seinem Radarschirm verschwunden. Zuletzt hatte Jackson gehört, daß sie sich in Neuseeland aufhielte. Nächstes Jahr würde er sie in Monaco entdecken oder in Skandinavien, in China oder Gott weiß wo. Das wußte er genau. Sie würde so lange von einem Ort zum nächsten ziehen, bis sie starb. Niemals würde sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren, da war er sicher.
Jackson war in einem sehr wohlhabenden Elternhaus aufgewachsen und hatte jeden materiellen Vorteil genossen – und dann war auf einen Schlag aller Reichtum verschwunden. Er mußte ihn mit seinem Verstand, seinem Schweiß und seinem Mut zurückverdienen. LuAnn Tyler war in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, hatte wie ein Hund für ein paar Cent geschuftet, ohne Hoffnung und Perspektiven – und wie stand sie jetzt da? Er, Jackson, hatte LuAnn Tyler die Welt geschenkt und ihr ermöglicht, das zu werden, was sie immer hatte sein wollen: jemand anders als LuAnn Tyler.
Jackson lächelte. Ihm gefiel diese Ironie des Schicksals. Wie konnte es bei seiner tiefen Liebe zur Täuschung auch anders sein? Er hatte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens damit verbracht, ein anderer zu sein.
Er blickte in LuAnns lebhafte hellbraune Augen, vertiefte sich in die Betrachtung der hohen Wangenknochen, des langen Haares. Er fuhr mit dem Zeigefinger über den schlanken, aber kräftigen Hals – und dachte wieder einmal an die beiden Züge und den gewaltigen Zusammenprall, der eines Tages vielleicht geschehen mochte. Bei diesen Gedanken strahlten seine Augen.
KAPITEL 21
Donovan betrat seine Wohnung, setzte sich an den Eßtisch und breitete die Papiere aus, die er aus der Aktentasche genommen hatte. Er konnte seine Erregung kaum im Zaum halten. Wochenlang hatte er Dutzende von Telefonaten geführt und sich die Hacken abgelaufen, um jene Informationen zusammenzutragen, die er nun durchsah.
Anfangs war ihm die Aufgabe schier unlösbar erschienen, schon aufgrund der Menge an Informationen zum Scheitern verurteilt. In dem Jahr, als LuAnn Tyler verschwunden war, hatte der J.-F.-Kennedy-Flughafen siebzigtausend internationale Passagierflüge abgefertigt. Am Tag der mutmaßlichen Flucht LuAnns hatte es zweihundert Flüge gegeben – zehn pro Stunde, da zwischen ein Uhr nachts und sechs Uhr früh keine Maschinen gestartet
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