Die Versuchung
Die vordere Stoßstange des Honda verhakte sich in der des Pickup. Riggs hörte das Getriebe kreischen, als der Hondafahrer versuchte, seinen Wagen freizubekommen. Doch vergeblich. Riggs sah im Rückspiegel, wie die Hand des Mannes im Wagen hinter ihm zum Handschuhfach glitt.
Riggs dachte nicht daran zu warten, ob eine Waffe erschien oder nicht. Er trat heftig auf die Bremse, schaltete in den Rückwärtsgang und gab Gas. Mit Genugtuung sah er, wie der Mann im Honda entsetzt hochfuhr und in Panik das Lenkrad umklammerte. Riggs nahm die gefährliche Kurve langsam, schob den Honda rückwärts vor sich her, und gab dann wieder Vollgas. Auf der Geraden schlug er das Lenkrad scharf nach links ein und schleuderte den Honda gegen die Felswand.
Beim Aufprall lösten sich die Stoßstangen der beiden Fahrzeuge voneinander. Der Hondafahrer schien unverletzt zu sein. Riggs legte den Vorwärtsgang ein, gab Gas und jagte wieder los, verfolgte den BMW. Mehrere Minuten blickte er immer wieder zurück, doch vom Honda war nichts zu sehen. Entweder war der Wagen beim Aufprall beschädigt worden oder der Fahrer hatte sich entschlossen, seine Verfolgungsjagd aufzugeben.
Das Adrenalin pulsierte noch einige Minuten durch Riggs’ Körper, bis die Erregung schließlich verebbte. In den letzten Jahren hatte Riggs einen gewissen Abstand von den Gefahren seines früheren Berufs gewonnen und merkte jetzt, daß diese Fünf-Minuten-Episode ihn lebhaft daran erinnert hatte, wie oft er dem Tod von der Schippe gesprungen war. Er hatte nicht damit gerechnet und sich erst recht nicht gewünscht, daß dieses Gefühl der Angst an einem verschlafenen Nebelmorgen in Virginia wieder zum Leben erweckt wurde.
Die beschädigte Stoßstange des Pickup klapperte laut. Schließlich verlangsamte Riggs das Tempo, da jede Verfolgung des BMW hoffnungslos war. Von der Hauptstraße führten unzählige Nebenstraßen ab. Hatte die Frau irgendeine dieser Straßen genommen, war sie längst über alle Berge.
Riggs hielt am Straßenrand, zog einen Stift aus der Hemdtasche und notierte die Zulassungsnummer des Honda und des BMW auf einem Schreibblock, der am Armaturenbrett klebte. Dann riß er den Zettel ab und steckte ihn in die Hemdtasche.
Wer im BMW gesessen hatte, konnte er sich denken. Jemand, der in der großen Villa wohnte. In derselben Villa, die er mit einem hochmodernen Sicherheitszaun umgeben sollte. Offenbar nicht ohne Grund, wie Riggs jetzt erkannte. Irgend jemand schien die Besitzer nicht leiden zu können. Und am meisten interessierte Riggs nun die Frage: warum?
Tief in Gedanken versunken fuhr er weiter. Der Friede des Morgens war durch den Ausdruck des blanken Entsetzens auf dem Gesicht einer Frau unwiederbringlich zerbrochen.
KAPITEL 23
Der BMW parkte einige Meilen hinter der Stelle, an der Riggs’ Pickup und der Honda aneinandergeraten waren. Der Wagen stand am Straßenrand, die Fahrertür war offen, und der Motor lief. LuAnn hielt die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, als würde sie frieren, und lief in engen Kreisen mitten auf der Straße, um den Schock abzureagieren. Sie keuchte, und ihr kondensierter Atem stieg in der kalten Morgenluft in heftigen Stößen zum Himmel. Wut, Verwirrung und Schrecken huschten über ihr Gesicht. Alle Spuren der Angst waren verschwunden, doch die Gefühle, die sie jetzt beherrschten, richteten einen viel größeren Schaden bei ihr an. Die Angst ging fast immer vorüber, doch die mentalen Rammböcke der Wut und der Ratlosigkeit hinterließen ihre Spuren. Das hatte LuAnn im Laufe der Jahre erfahren. Es war ihr sogar gelungen, damit fertig zu werden, so gut sie es vermochte.
LuAnn Tyler war jetzt dreißig Jahre alt, besaß aber noch immer die impulsive Energie und die geschmeidigen Raubkatzenbewegungen ihrer Jugend. Die Jahre hatten ihr eine vollkommenere, reife Schönheit verliehen. Doch die Merkmale dieser Schönheit hatten sich deutlich verändert. Ihr Körper war sehniger als früher, die Taille schmaler. Dadurch wirkte sie noch größer, als sie ohnehin war. Sie trug ihr Haar seit Jahren wieder lang, jetzt aber blond und nicht mehr kastanienrot, und so gekonnt geschnitten, daß die Frisur ihre hervorstechendsten Gesichtszüge betonte, auch die durch eine Operation verkleinerte Nase – ein Eingriff, der weniger aus Gründen der Ästhetik, sondern zur Tarnung vorgenommen worden war. Ihre Zähne waren nun makellos, was sie den jahrelangen Bemühungen der besten Zahnärzte verdankte. Doch eine
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