Die Versuchung
die üblichen Klatschkanäle hatten das Geheimnis nicht lüften können. Riggs wußte nur, daß es an der St. Anne’s-Belfield School eine neue, zehnjährige Schülerin namens Lisa Savage gab, die Wicken’s Hunt als Anschrift genannt hatte. Überdies hatte Riggs gehört, daß eine große junge Frau das Mädchen gelegentlich zur Schule brachte oder von dort abholte. Allerdings hatte die Frau stets eine Sonnenbrille und einen großen Hut getragen. Meist aber hatte ein Mann das Mädchen von der Schule abgeholt – ein älterer Mann mit der Figur eines Footballspielers, wie man ihn Riggs beschrieben hatte. In Wicken’s Hunt schienen seltsame Familienverhältnisse zu herrschen. Riggs hatte ein paar Freunde, die in der Schule arbeiteten, doch keiner rückte mit der Sprache heraus, was die junge Frau betraf. Falls die Burschen ihren Namen kannten, wollten sie ihn nicht preisgeben.
Als Riggs um die Kurve bog, erschien die Villa plötzlich direkt vor ihm. Sein Pickup ähnelte einem primitiven, schwerfälligen Schlepper, der sich der Queen Elizabeth II näherte. Das Haus war drei Stockwerke hoch, die doppelflügelige Eingangstür fast sieben Meter breit.
Riggs parkte den Pickup auf der runden Auffahrt, die um einen prachtvollen Springbrunnen führte, der an diesem kalten Morgen nicht in Betrieb war. Die Gartenanlagen waren ebenso großzügig und sorgfältig angelegt wie das Haus. Wo einjährige Blumen und spätblühende Arten verwelkt waren, füllten verschiedene immergrüne Pflanzen die Lücken.
Riggs stieg aus, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Zettel mit den Kennzeichen des BMW und des Honda in seiner Tasche steckte. Als er zum Vordereingang ging, fragte er sich, ob die Besitzer einer so herrschaftlichen Villa sich dazu herablassen würden, eine Klingel anzubringen, oder ob ein Butler ihm unaufgefordert die Tür öffnete, sobald er sich näherte. Riggs entdeckte weder eine Klingel noch einen Butler. Doch als er auf der obersten Stufe stand, ertönte eine Stimme aus einer offensichtlich nagelneu eingebauten Gegensprechanlage neben der Tür.
»Kann ich Ihnen helfen?« Es war eine Männerstimme, tief und fest. Und ein wenig bedrohlich, wie Riggs fand.
»Mein Name ist Matthew Riggs. Meine Firma hat den Auftrag, den Sicherheitszaun um das Grundstück zu bauen.«
»Aha.«
Die Tür bewegte sich nicht, und der Tonfall des Mannes ließ erkennen, daß sich nichts tun würde, falls Riggs keine weiteren Informationen vorbrachte.
Er blickte sich um. Plötzlich spürte er, daß er beobachtet wurde. Na klar. Über seinem Kopf war in einer Nische auf der Rückseite einer Säule eine Videokamera angebracht. Sie sah ebenfalls neu aus. Riggs winkte.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Stimme wieder.
»Ich würde gern Ihr Telefon benützen.«
»Tut mir leid, aber das ist nicht möglich.«
»Es sollte aber möglich sein. Ich habe nämlich gerade mit meinem Pickup ein Auto gerammt, das einen großen anthrazitgrauen BMW verfolgt hat, der von dieser Villa gekommen ist, da bin ich ziemlich sicher. Ich wollte mich nur vergewissern, daß es der jungen Frau gut geht, die den BMW gefahren hat. Sie sah ziemlich verängstigt aus, als ich sie zuletzt gesehen habe.«
Riggs hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde; dann öffnete sich die Tür. Der ältere Mann, der vor Riggs erschien, war gut eins achtzig groß, wie Riggs selbst, hatte aber breitere Schultern und einen viel mächtigeren Brustkorb. Dann bemerkte Riggs, daß der Mann leicht hinkte, als würden die Beine oder Kniegelenke Spuren seines Alters zeigen. Doch wenngleich Riggs ein kräftiger, athletischer Mann war, hatte er keine Lust, sich mit diesem Burschen anzulegen. Trotz des fortgeschrittenen Alters und der Gehbehinderung sah er kräftig genug aus, Riggs mit Leichtigkeit das Genick brechen zu können. Dieser Bursche war offensichtlich der Mann, den Riggs’ Freunde öfters gesehen hatten, wenn er Lisa Savage von der Schule abholte. Der fürsorgliche Footballspieler.
»Wovon reden Sie, zum Teufel?«
Riggs deutete auf die Straße. »Vor etwa zehn Minuten wollte ich mir einen ersten Überblick über die Grundstücksgrenze verschaffen, ehe ich meine Männer und das Gerät herkommen lasse. Plötzlich kommt dieser BMW angerast, eine Frau am Steuer. Blond, soweit ich es erkennen konnte. Sie hatte Todesangst. Ein schwarzer Honda Accord, wahrscheinlich ein 92er oder 93er Modell, hing praktisch an ihrem Auspuff. In dem Honda saß ein Kerl, und er sah verdammt
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