Die Versuchung
Unvollkommenheit war geblieben.
LuAnn hatte Jacksons Rat nicht befolgt, was die Messerwunde am Kinn betraf. Sie hatte die Wunde nähen, die Narbe aber nicht beseitigen lassen. Sie war nicht allzu auffällig, doch jedesmal, wenn LuAnn in den Spiegel schaute, wurde sie unerbittlich daran erinnert, woher die Narbe stammte. Woher sie selbst stammte. Die Narbe war die sichtbarste Verbindung zur Vergangenheit – und keineswegs eine angenehme. Doch gerade deshalb wollte LuAnn diese Narbe nicht durch eine Schönheitsoperation beseitigen lassen. Sie wollte an die Schrecknisse und die Schmerzen erinnert werden.
Die Menschen, mit denen LuAnn aufgewachsen war, hätten sie vermutlich wiedererkannt. Doch LuAnn hatte nicht die Absicht, einen der alten Bekannten zu treffen. Sie hatte sich angewöhnt, einen großen Hut und Sonnenbrille zu tragen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, was nur selten geschah. Sich ein Leben lang vor der Welt zu verstecken war Teil der Abmachung.
Sie ging zum Wagen zurück, setzte sich hinein und rieb nervös die Hände über das gepolsterte Lenkrad. Immer wieder blickte sie nach hinten, hielt nach dem Verfolger Ausschau. Doch die einzigen Geräusche waren ihr heftiger Atem und der im Leerlauf grollende Motor des BMW.
LuAnn kuschelte sich in ihre Lederjacke, zog die Jeans hoch, schwang die langen Beine in den Wagen, schlug die Tür zu und verriegelte sie von innen.
Sie fuhr weiter. Für ein paar Augenblicke drehten ihre Gedanken sich um den Mann im Pickup. Offensichtlich hatte er ihr geholfen. War er nur ein guter Samariter, der zufällig zur rechten Zeit aufgetaucht war? Oder sah die Sache anders aus, viel komplizierter? LuAnn lebte schon so lange mit diesem Verfolgungswahn, daß er sie wie eine Außenbemalung umgab, wie eine dicke Farbschicht. Alle Beobachtungen mußten zuerst durch diesen Filter dringen, und sämtliche Schlußfolgerungen LuAnns basierten darauf, wie sie die Motive eines jeden Menschen einschätzte, der unerwartet in ihr Leben eindrang.
Alles lief auf eine bittere, unumstößliche Tatsache hinaus: die Angst vor Entdeckung. LuAnn holte tief Atem und fragte sich zum hundertstenmal, ob sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte, als sie in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war.
Riggs fuhr mit seinem ramponierten Pickup über die Privatstraße zur Villa. Er hatte scharf nach dem Honda Ausschau gehalten, als er von der Hauptstraße abgebogen war, doch weder Wagen noch Fahrer waren aufgetaucht. Riggs mußte die Polizei verständigen, und der schnellste Weg zu einem Telefon war eine Fahrt zur Villa. Vielleicht fand er dort auch Erklärungen, was die Ereignisse dieses Morgens betraf. Nicht daß er Anspruch auf irgendwelche Erklärungen hatte, doch durch sein Eingreifen hatte er der Frau geholfen, und das gab ihm gewisse Rechte. Überdies konnte er die Sache jetzt nicht mehr auf sich beruhen lassen.
Riggs war erstaunt, daß ihn auf der Zufahrt niemand aufhielt. Offenbar gab es hier keinen privaten Sicherheitsdienst. Riggs hatte sich mit dem Beauftragten der Villenbesitzer in der Stadt getroffen. Heute war sein erster Besuch auf dem Anwesen, das unter dem Namen »Wicken’s Hunt« bekannt war.
Die Villa war eines der schönsten Herrenhäuser in der Gegend. Sie war Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts errichtet worden – mit einer handwerklichen Kunst, wie sie es heutzutage einfach nicht mehr gab. Der Wall-Street-Magnat, der die Villa als Sommerwohnsitz hatte bauen lassen, war während des Börsenkrachs 1929 in New York von einem Wolkenkratzer gesprungen. Später hatte das Haus mehrmals den Besitzer gewechselt und dann sechs Jahre lang zum Verkauf gestanden, bis der jetzige Eigentümer es erworben hatte. Natürlich war eine umfängliche Renovierung erforderlich gewesen. Riggs hatte mit einigen Handwerkern gesprochen, die diese Arbeiten vorgenommen hatten. Sie hatten mit Bewunderung, ja Ehrfurcht von dem handwerklichen Können der Erbauer und der Schönheit der Villa gesprochen.
Die Umzugsfirma, welche die Sachen des neuen Besitzers durch die Berge hinauf zur Villa transportiert hatte, mußte ihre Fahrten mitten in der Nacht unternommen haben, denn Riggs war noch niemandem begegnet, der irgendwelche Möbelwagen gesehen hatte. Auch den Besitzer hatte noch kein Mensch zu Gesicht bekommen. Riggs hatte sogar in den Grundbucheintragungen im Bezirksgericht nachgeschaut. Dem Eintrag zufolge gehörte die Villa einer Firma, von der Riggs noch nie gehört hatte.
Auch
Weitere Kostenlose Bücher