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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hören oder nur Stille. Nur das.
    Am Wochenende sage ich zu Audrey: »Ist Tennessee ein schöner Staat?«
    »Ein schöner Staat?« fragt sie. »Hören Sie, Martin, es ist einer der schönsten Staaten Amerikas. Setzen Sie sich in einen Bus Richtung Süden nach Franklin, und Sie werden es selbst sehen.«
    Ich steige in eine Art Greyhound-Bus. Das Radio im Bus spielt Lieder wie jene, um die sich Walters Leben drehte, bevor es sich um Skippy Jean Maguire zu drehen begann.
    Ich habe eine Fahrkarte nach Franklin gekauft, bitte den Fahrer jedoch, mir Bescheid zu sagen, wenn wir uns mitten in der Einöde befinden, und mich dann dort rauszulassen.
    »Okay«, meint er. »Was für eine Art Einöde wünschen Sie, Sir? Felder? Wälder? Parklandschaft? Ich muß wissen, welche Art Einöde.«
    »Felder«, sage ich.
    »Aber kein Selbstmord, he?«
    »Nein.«
    »Okay. Verstanden. Ich weiß, wo ich Sie rauslasse.«
    Er hält in einem Tal an. Auf beiden Seiten der Straße stehen Pappeln. Hinter den Pappeln sind Felder mit grünem Mais, und in einem Becken noch weiter hinten erstrecken sich hügelige Wiesen fächerartig zu einem Wald hinauf. Am Rande eines Maisfelds verläuft ein Feldweg, an dessen Seite ein einsames Huhn an einer Pappelwurzel pickt.
    Ich gehe den Feldweg entlang. Das Huhn folgt mir. Es rennt, versucht mich einzuholen. Es glaubt, ich würde ihm den Weg nach Hause zeigen.
    Es ist ein Tag, den Les Chesney als »hübsch« bezeichnen würde. Er meint damit hell, schön, wolkenlos. Er sagte einmal: »Als ich noch verheiratet war, Martin, fand ich alle Tage hübsch.«
    Ich trage die hohen Stiefel aus kräftigem Leder, bei derenAuswahl mir Walter geholfen hat. In ihnen fühle ich mich groß und habe einen stolzierenden Gang.
    Ich stolziere also mit meiner Begleitung, dem Huhn, den Feldweg entlang. Es ist ein Rhode Island Red. Ich erkenne es an seinem scharlachroten Kamm.
    Als die Wiesen anfangen, macht der Feldweg eine Kurve nach links. Ich bleibe stehen. Das Huhn wendet sich nach links und rennt schneller. Ich höre einen Hund bellen und weiß nun, daß der Weg zu einem Hof führt.
    Ich gehe den Grashügel hinauf. In der Ferne kann ich jetzt das von Bäumen geschützte Haus sehen. Es ist das einzige Haus im Tal, und ich vermute, daß seinem Besitzer auch das ganze Land im Umkreis gehört. Ein Leben wie im Paradies, wenn man einmal davon absieht, daß der Fernsehempfang schlecht ist.
    Ich setze mich ins Gras, zünde mir eine Zigarette an und lasse den Blick über all die Schönheit schweifen. Ich denke bei mir: Im Sommer gibt es Arbeit auf den Bauernhöfen, da muß das Obst gepflückt werden. Diese Arbeit macht stark.
    Ich blicke auf das Hausdach.
    Eine Weile nach dem wichtigen Brief, jenem, den ich mir eingeprägt und für immer ins Gedächtnis gegraben hatte, teilte mir Cord noch ein paar Neuigkeiten mit. Er schrieb: »Den Hof gibt es nicht mehr. Das Haus ging an Leute aus London, die es abreißen und ein neues hinbauen wollen. Die Hypothek ist abgetragen.
    Grace Loomis hat das Land gekauft. Sie zieht Truthähne und baut eine Fleischfabrik. Sie hat eine verdammt große Lastwagenflotte, mit der sie die Supermärkte im ganzen Land beliefert.
    Deine Mutter ist hier bei mir in Gresham Tears. Schwer zu sagen, wer sich um wen kümmert. Die Sache ist die, Martin, daß ich so verdammt alt werde.«
    So erlaube ich mir manchmal, an sie zu denken. Jetzt, da mein Vater tot ist, jetzt, da sie bei Cord ist, jetzt, da Timmy und Pearl weit weg sind.
    Wenn es im Supermarkt ruhig ist oder ich allein in meinem Zimmer des Hauses 767 bin und beobachte, wie die Vögel in die Schattenbäume und wieder heraus fliegen, stelle ich sie mir vor. Auch jetzt, hier in diesem Tal, beim Rauchen einer Marlboro, sehe ich sie vor mir, wie sie am Kamin oder draußen unter dem Vordach sitzt oder Cord hilft, die Kletterrosen zurückzuschneiden.
    In meiner Vorstellung ist sie jung. Ihr Haar ist noch schwarz und lang und dicht.

19. Kapitel
    1976
Martin:
    Walter und Sky versuchen zu heiraten oder vielmehr Skys ersten Mann zu finden, damit sie sich von ihm scheiden lassen und Walter heiraten kann. Sie sagt zu mir: »Er war nie greifbar, Martin. Er entglitt mir ständig.«
    Jetzt ist er gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Er hatte bei der Flußschiffahrt gearbeitet, und wahrscheinlich ist er ja auch auf irgendeinem Fluß, doch niemand weiß, auf welchem. Sie schreiben an alle Flußschiffahrtsgesellschaften im Süden, aber in Amerika gibt es mehr Flüsse als auf

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