Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
man gewöhnliche Dinge malt. Und der Krieg ist jetzt endlich vorbei. Eine Nation kann einer Sache so überdrüssig werden, daß sie am liebsten in das Meer des Vergessens eintauchen und rosa und unschuldig wie ein Auto wiedergeboren werden würde. Das kann ich verstehen.
Als zweites nach dem Aufwachen, nachdem ich auf die Möbel geblickt habe, fällt mir ein, daß mein Vater nicht mehr am Leben ist.
Dann stehe ich auf und beginne meinen Tag mit Duschen. Ich lausche auf die Alltagsgeräusche: Lois trifft ein, Bill C. singt im Bad, Audrey schaltet in der Küche das Radio ein. Anschließend ziehe ich die Vorhänge zurück und schaue in den Morgen hinaus. Ich spüre so etwas wie Glück in mir aufsteigen.
Als ich die Nachricht erhielt, prägte ich mir die Worte genau ein, grub sie mir für immer ins Gedächtnis. Ich fühlte mich innerlich aufgewühlt.
Es war Cord, der es mir mitteilte. Der Brief war mit seiner grünen Tinte geschrieben, und diesmal waren keine Wincarnisflecken darauf. Die Worte, die ich mir einprägte, waren: »Es scheint kein Unfall gewesen zu sein. Er hat erst den Hund erschossen. Dann jagte er sich eine Kugel in den Kopf.«
Dann jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Tief in meinem Gedächtnis eingegraben, für immer.
Ich fahre mit dem Bus zur Arbeit und habe fast immer denselben Busfahrer, der zu mir sagt: »Morgen, Sir. Wie geht’s denn heute?« Und ich bin unweigerlich jeden Morgen aufs neue davon gerührt und antworte: »Gut.«
Im Supermarkt sind die Leute nicht so freundlich. Es ist dort kalt. Die Kassiererinnen tragen Handschuhe mit halben Fingern. Die Lebensmittelpacker rechnen sie nicht zur Belegschaft. Wir sind unsichtbar für sie. Sie klatschen über Fernsehsendungen, Nagelhärter und Männer. Uns lassen sie links liegen.
Es macht mir nichts aus. Ich bin nicht auf der Suche nachFreunden und Vertrauten. Ich konzentriere mich aufs bloße Sein, lebe jede Stunde ganz bewußt, eine nach der anderen. Ich fühle mich ruhig und ausgeglichen. Ich warte nicht mehr darauf, daß die Zeit vergeht.
Der einzige, den ich im Supermarkt kennengelernt habe, heißt Les Chesney. Er ist für die Hygiene innerhalb des Supermarkts zuständig. Seine Aufgabe ist es, herumzugehen, nach Kakerlaken zu schauen und die Fingernägel der Verkäufer zu überprüfen. Alle außer mir empfinden einen Widerwillen gegen ihn. Er ist befugt, einen Fleischpacker rauszuwerfen, wenn er kein Haarnetz trägt. Er hat dicke, saubere Hände und ein Gewichtsproblem. Man nennt ihn Les Ches. Ich weiß nicht, warum ich ihn mag. Vielleicht, weil mir, als ich hörte, wie er Les Ches genannt wurde, einfiel, was Sterns einmal gesagt hatte: »Es ist der Name, der einem das Herz bricht.«
Manchmal gehe ich nach der Arbeit mit Les Ches in eine Bar, wo wir mexikanisches Bier trinken. Dort hat er mir einmal erzählt: »Ich habe früher Eishockey gespielt. Eines Tages wurde mir das linke Schienbein zerschmettert, und das war’s dann.«
»Das tut mir leid, Les.«
»Damals hatte ich noch eine Frau und eine Couchgarnitur aus Lederimitation. Und ich war schlank.«
»Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Die Vergangenheit ist Atlantis.«
»Entschuldigen Sie, Mart, Atlantis war eine Stadt und kein Land.«
»Wie dem auch sei, das spielt keine Rolle. Entscheidend ist, daß es nicht mehr da ist.«
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich gebe die Vergangenheit noch nicht ganz auf. Von Zeit zu Zeit mache ich Radikalkuren, schreibe meiner Exfrau Briefe und träume sogar von Möbeln.«
»Nun, das halte ich für unklug, Les.«
»Warum? Ich hatte damals ein angenehmes Leben. Ichwußte, wer ich war. Wünschen Sie sich nicht auch manchmal die Vergangenheit zurück?«
»Nein. Nie.«
Les hat kleine, tiefliegende Augen, mit denen ihm Starren schwerfallen würde.
»Sicher hatten Sie«, meint er, »da Sie aus England sind, so viel verflixte Vergangenheit um sich herum, daß Sie es nicht über sich bringen, dieser noch mehr hinzuzufügen. Stimmt’s?«
Ich muß lächeln. »So kann man es auch sehen.« Ich bestelle noch ein Bier für Les, und er sagt: »Sie sind ein netter Kerl, Martin. Sie sind so, wie die Leute früher waren.«
Dann gehe ich zu meinem Zimmer, um eine von Audreys Mahlzeiten einzunehmen. Nur eines ihrer Gerichte kann ich nicht ausstehen: gedünstetes Rübenkraut. Es schmeckt säuerlich. Alles, was wir essen, ist tot, doch wenn ich mir überlege, was nach Tod schmeckt, fällt mir nur dieses Gemüse ein. Ich entschuldige mich bei Audrey. Sie
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