Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
immer das gleiche: »Nun, Estelle, wo waren wir denn?«
Ja, wo waren wir denn?
Ich weiß es nicht.
Deswegen bin ich ja hier. Um mich daran zu erinnern, wo ich in meinem Leben gewesen bin.
Doch Linda ist in Eile. Sie hat ganze sechs Wochen, um mich gesund zu machen. Dann müssen wir alle mit unseren Reisetaschen das Gebäude verlassen.
Ich sage zu Linda: »Die Regierung hat eine Kleinigkeit übersehen: Steptanz kann man nicht pantomimisch darstellen.«
Was meinen Verstand so überlastet hat, waren Todesfälle.
Sonnys Tod. Ich habe vergessen, wann es war.
Danach war eine Pause, in der ich bei Cord in Gresham Tears wohnte. Er fragte: »Was ist denn aus deinem Kochen geworden, Est? Alles verlernt?«
Ich fing also an, wie früher zu kochen. Ich bereitete Ochsenschwanz-Eintöpfe, Shepherd’s Pie und Sommerpudding zu. Cord und ich gediehen prächtig und wurden dick. Morgens hörte ich ihn in seinem Zimmer pfeifen. Nachmittags machten wir Spaziergänge. Er sagte: »Schön, daß es dir wieder gutgeht.« Ich sammelte Wildblumen und kaufte eine Blütenpresse. Ein paar Abende verbrachten wir mit dem Basteln von Grußkarten.
Doch dann folgten die anderen Todesfälle.
Pete Loomis starb in einem Krankenhaus in Ipswich. Ich bin die einzige, die ihn dort besucht hat. Der Krebs, den er in der Nase gehabt hatte, tauchte in seiner Lunge wieder auf. Er behauptete, die Truthähne seien schuld daran. »Wenn ich jünger wäre, würde ich vor Gericht gehen.«
Ich sagte: »Hören Sie zu, Pete, wenn Sie hier entlassenwerden, kommen Sie zu Cord und mir. Dort ist es ganz ruhig.«
Doch er wurde nicht mehr entlassen.
Wir begruben ihn auf dem Friedhof von Swaithey.
Grace Loomis sagte: »Wenn je ein Leben vergeudet war, Estelle, dann dieses.«
Ich erwiderte: »Ihr Sohn würde Ihnen da nicht zustimmen!« und ließ sie stehen.
Walter schickte einen Nelkenkranz in Form einer Gitarre.
Pete hinterließ mir sein aufziehbares Grammophon und seine Schallplattensammlung.
Cord sagte: »Wir wissen das zu schätzen, wirklich!«
Der Obus wurde auf Graces Antrag hin von der Stadt beseitigt. Sie behauptete, er sei ein Gesundheitsrisiko.
Wir fuhren fort mit unserem Leben in G. Tears, wie Cord es oft nennt. In dieser Zeit sagte Cord einmal zu mir: »Es gibt da noch etwas, Stelle, was ich dir erzählen möchte, bevor ich gehe.«
»Wo willst du denn hingehn?«
»Paß auf! Hör mir bitte einmal zu!«
»Ich höre zu. Das ist sowieso das einzige, was ich die ganze Zeit mache – auf Hinweise auf den Sinn des Lebens lauschen.«
Wir saßen in Liegestühlen im Garten. Mittlerweile waren wir schon so dick geworden, daß die Stühle knackten.
Cord fragte: »Du erinnerst dich noch an Mary?«
Ich antwortete: »Das ist Geschichte. Es ist schon seit unendlich vielen Jahren Geschichte.«
»Also gut. Es ist Geschichte. Dann sollst du aber wissen, wie die Geschichte wirklich war. Wir haben dich alle davor bewahrt – Irene, Pearl, Timmy und ich –, doch jetzt ist es an der Zeit, daß du es erfährst.«
Also erzählte er mir die Geschichte von Martin.
Als er damit fertig war, mußte ich mir etwas Süßes suchen, um bei Kräften zu bleiben. Ich öffnete eine Packung Cadbury’s Orange Creams, nahm sie mit in den Garten und legte sie in den Schatten unter meinem Liegestuhl.
Ich schwieg. Cord war nicht wie Linda. Bei ihm mußte man nicht reden, wenn man nicht wollte.
Ich saß da und aß Schokoladenplätzchen. Nach längerer Zeit fragte ich: »Sind wir schuld daran? Sonny und ich?«
Cord schüttelte den Kopf und sagte: »Wenn jemand weiß, daß gewisse Dinge keine Ursache zu haben scheinen, dann bist du es. Es gibt sie einfach, und damit hat es sich. Und die Antwort kennt ganz allein der Wind.«
Wo war ich?
Wo waren wir denn?
»Wir haben über den Tod Ihres Vaters gesprochen«, sagt Linda.
»Ja, wirklich?«
»Ja.«
»Nun«, erwidere ich, »darüber möchte ich nicht sprechen.«
Ich will es wirklich nicht. Es war der traurigste Tod von allen. Danach mußte ich hierherkommen, weil ich nur noch aß und aus dem Fenster starrte. Ich konnte an nichts anderes mehr als an diese beiden Tätigkeiten denken. Ich aß und sah in den Garten hinaus, und wenn alles in Dunkelheit gehüllt war, blickte ich weiter hinaus.
Ich erkläre Linda: »Man kann es ertragen, wenn gewisse Dinge in der Vergangenheit liegen, aber wenn fast alles in der Vergangenheit liegt, dann ist es in der Gegenwart zu einsam.«
»Nun gut«, meint sie, »dann wollen wir über die Gegenwart
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