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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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war viel schrecklicher, als Walter geglaubt hatte.
    Pete sagte, es sei ein Klang aus den Bergen, wo man sein eigenes Echo hören kann. Es sei ein Jammer, daß es in Suffolk keine Berge gebe.
    Walter versuchte sich das Jodeln beizubringen, indem er Jimmie Rodgers nachahmte. Dann hörte er im Radio seiner Eltern einen kanadischen Sänger namens Hank Snow, genannt »Der jodelnde Ranger«, der dieselben hohen, sprudelnden Töne hervorbrachte, und er sagte zu Pete: »Das zeigt mir, daß ich auf dem richtigen Weg bin.« Snow sang ein so trauriges Lied, daß es Walter sehr zu Herzen ging. Es hieß I Don’t Hurt Anymore .
    Die Kunden im Loomis-Laden bekamen manchmal einen unerwarteten Ausbruch von Walters Jodelübungen im Hof mit, und besonders die Damen Cunningham fühlten sich dann unbehaglich. »Weißt du, Amy«, sagte die eine Schwester zur anderen, »ich glaube, der Loomis schlachtet jetzt langsamer, es klingt nun fast so, als würden Menschen schreien.«
    Es war eine furchtbar schwierige Aufgabe. Ob sie ihn vernichten würde? Es war so, als versuche man, etwas Stilles zum Sprudeln zu bringen. Pete konnte kaum glauben, daß diese ganze Schinderei auf den Regen und die Sauferei einer Nacht zurückging. Er ermahnte Walter, es nicht zu übertreiben. Er merkte, daß der Junge Fieber hatte, welches nicht wieder abklingen wollte. Er sah Walters Kopf im Kuhstall dampfen, und sein Nacken über dem kragenlosen Hemd war dunkelrot.
    »Mach mal ’ne Pause mit dem Jodeln«, riet ihm Pete, »sonst platzt dir noch das Gehirn.«
    Er hatte aber Walters Hingabefähigkeit vergessen. »Ich kann einfach keine Pause machen«, sagte Walter, »nicht, bevor ich es beherrsche.«
    Doch er lernte es nicht. Jedenfalls nicht richtig. Er schaffte eine Art Trällern, ein kleines Rollen hinten im Hals, aber der große Aufschwung zum Falsett, wie er Rodgers und Snow so mühelos gelang, blieb für ihn unerreichbar. Er konnte das Jodeln in sich hören. In seinem Fieber hatte er manchmal sogar den Eindruck, es sehen zu können, als hüpfendes Licht über den Bäumen.
    Dann hörte er im Radio einen neuen Schlager von Slim Whitman: Rose Marie .
    Pete sagte zu Ernie: »Dieses ›Rose Marie‹ wird deinen Sohn umbringen.«
    Grace ermahnte ihn: »Wir haben alle nur eine Stimme, Walter, und du ruinierst dir deine.«
    Doch er kaufte sich die Schallplatte und legte sie so oft auf, daß er vier Grammophonnadeln verbrauchte. Bei der Leichtigkeit, mit der Slim Whitman das Lied sang, mußte er an einen Wasserfall denken. Er träumte von Bergen. Das Wort »whippoorwill« (dessen Bedeutung ihm unklar war) ließ ihn nicht mehr los. Er erinnerte sich an Petes Erzählungen von Schneestürmen und betete darum, daß einer kam und ihm Kühlung brachte. Schließlich hatte ihn eines Morgens das Fieber so heftig gepackt, daß er sich nicht mehr bewegen konnte.
    Und nicht mehr sprechen konnte. Als er die Fragen des Arztes beantworten wollte, brachte er kein Wort heraus. Walter hatte so unwahrscheinliche Schmerzen im Hals, daß er dachte, ein Eispickel müsse darin stecken. Er wollte seine Mutter bitten, diesen zu entfernen, merkte jedoch, daß ernicht in der Lage war, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben.
    Er wurde zum Morris Minor des Arztes gebracht, und im Wagen legte man eine Decke um ihn. Auf dem Weg ins Krankenhaus verlor er den Überblick über die Jahreszeiten und dachte, es wäre Herbst, Herbst in Amerika. Dort lag man im Herbst da, hatte Pete gesagt, und träumte. Und aus dieser Träumerei heraus entstand etwas, doch Walter wußte nicht mehr, was es war. Er fürchtete, daß es vielleicht der Tod und das ewige Schweigen war. Er kämpfte mit seiner Decke, als wären dort der Tod und das Schweigen. Der Morris des Arztes machte immer wieder Schlenker. Mit Walter hinten im Wagen war es nicht viel anders als mit einem kranken Bullen.
    Es war aber nicht Herbst. Es war Frühlingsanfang, noch grau und kalt.
    Im kühlen Krankenhauszimmer sah Walter, der von einer feuchten Decke aufs Bett niedergedrückt wurde, den alten Arthur Loomis eintreten und Platz nehmen. Er trug seine Schürze. Sein Gesicht strahlte vor Vitalität und Gesundheit, und sein Bart war gepflegt und glänzend. »Walter«, sagte er, »ich bin froh, daß wir jetzt einmal Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.«
    Er schien darauf zu warten, daß Walter etwas erwiderte, doch Walter konnte nicht sprechen.
    Arthur strich sich über den Schnurrbart. Er hatte braune, freundliche Augen wie eine Taube. »Ich

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